Wir sind kosmische Geschöpfe – Krafft Ehricke und das Anwachsen der Noosphäre

Der folgende Artikel basiert auf einem Vortrag, den die Verfasserin am 25. Juni 2016 in Houston (Texas) gehalten hat.


Bevor ich in meinem Vortrag auf die großen Visionen des Weltraumpioniers Krafft Ehricke eingehe, hier einige Vorbemerkungen.

Die menschliche Vernunft ist eine kosmische Kraft. Und genau in diesem Sinn hat der Biogeochemiker Wladimir Wernadskij 1925 seine Schrift Die Autotrophie des Menschen eingeleitet:((Aus dem Englischen übersetzt, siehe https://21centurysciencetech.com/Articles_2013/Fall-Winter_2013/Human_Autotrophy.pdf))

„Auf der Erde existiert jetzt eine starke geologische Kraft; vielleicht eine kosmische… Diese Kraft scheint keine neue Äußerung oder besondere Form der Energie zu sein, noch ein reiner und einfacher Ausdruck bekannter Energie. Aber sie übt einen tiefgreifenden und starken Einfluß auf den Verlauf energetischer Phänomene auf der Erde aus und hat folglich über die Oberfläche hinaus – kleine, aber unbestreitbare – Auswirkungen auf die Existenz des Planeten selbst.

Diese Kraft ist die menschliche Vernunft, der gerichtete und kontrollierte Wille des sozialen Menschen.“

In der Neuzeit hat Johannes Kepler (1571–1630) erstmals die Übereinstimmung der menschlichen Vernunft mit dem Kosmos zum Ausdruck gebracht. Seitdem sich Keplers Entdeckungen bestätigt haben, ist das Sonnensystem kein entfernter Raum außerhalb der Reichweite des Menschen mehr, sondern ein Objekt der Vernunft – neugefaßt als etwas, das mit den menschlichen Geisteskräften übereinstimmt.

Mit seiner Hypothese, daß die Planeten nicht bloß eine Ansammlung von auf der Himmelskugel verteilten Lichtern sind, deren Bewegungen sich beobachten, messen und mit Hilfe von Modellen vorhersagen lassen, sondern daß ihre Bewegung eine wißbare physikalische Ursache hat – eine physikalische Kraft, die von der Sonne ausgeht –, begründete Kepler eine neue Wissenschaft, die Astrophysik, und veränderte so das Verhältnis des Menschen zum Sonnensystem grundlegend.

Er erweiterte diese Entdeckung, indem er nachwies, daß das Sonnensystem keine ungeordnete Ansammlung von Himmelskörpern ist, die zufällig dieselbe Region des Alls bevölkern. Es ist kein fixes, sondern ein kohärentes System, denn jeder Planet ist in seinen Bewegungen auf alle anderen „abgestimmt“, so wie die Kohärenz einer musikalischen Komposition entsteht, indem viele Stimmen im gemeinsamen Konzert zusammenkommen, um eine einheitliche Idee zum Ausdruck zu bringen.

Und so wurde das Sonnensystem im frühen 17. Jahrhundert mindestens als Potential Teil des Wirkungsbereichs des Menschen, den er verändern konnte.

Allerdings mußten die Menschen fast 300 Jahre warten, bis dieses Potential verwirklicht werden konnte. Erst im frühen 20. Jahrhundert rückte die Raumfahrt dank unserer Fortschritte bei der Beherrschung von Prinzipien der Chemie und Materialwissenschaften sowie durch die Entwicklung des Motorfluges in greifbare Nähe.

Um diese Zeit entstanden erste Raketenclubs und – vereinigungen, etwa in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Rußland. Mitglieder dieser Liebhaberorganisationen waren meist junge Männer, von denen sich viele von dem 1929 produzierten Film Frau im Mond((Fritz Langs Film Frau im Mond regte viele deutsche spätere Raumfahrtpioniere, die damals noch Kinder oder junge Männer waren, zu dem Gedanken an, daß der Mensch mit Raketen ins All fliegen könnte, um es zu erforschen. Langs wichtigster Berater für den Film war der Raumfahrtvisionär und Mentor vieler späterer Raketenkonstrukteure, Hermann Oberth, ein Lehrer, der sein ganzes Leben lang die Ideen und notwendigen technischen Konzepte entwickelte, um Raketenflüge und menschliche Aktivitäten im Weltraum zu ermöglichen.)) begeistern ließen; sie entwickelten und experimentierten mit Techniken für Raketen und Raketenantriebe. Der große Visionär Krafft Ehricke, der später einer der maßgeblichen Architekten des amerikanischen Raumfahrtprogramms werden sollte, war Teil dieser mitreißenden Bewegung von Begeisterung und Optimismus.

Aus der frühen Zeit der Raketenforschung. Rudolf Nebel (links), Hermann Oberth (rechts neben der Rakete), Klaus Riedel (hält die kleine Rakete) und hinter ihm der junge Wernher von Braun. Quelle: Rolf Engel

Denken verändert den Kosmos

In diese Anfänge der Raumfahrt fällt das Leben und Werk von Wladimir Wernadskij. 1926 erschien Wernadskijs bekanntestes Werk, Die Biosphäre.((Vernadsky, V. I., The Biosphere, engl. Übers. D. B. Langmuir, Springer
Science & Business Media, 2012.)) Das erste Kapitel dieser großartigen Schrift, „Die Biosphäre im kosmischen Medium“, beginnt wie folgt:

„Der Anblick der Erde vom Himmel aus gesehen stellt eine ganz besondere Erscheinung dar, ganz anders als die anderer Himmelskörper. Die Oberfläche, die den Planeten vom kosmischen Medium trennt, ist die Biosphäre…“

Man bedenke, daß es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis Menschen die Erde aus dem All sehen konnten. Aber Wernadskij betrachtete die Erde immer schon im größeren kosmischen Zusammenhang von außen. Er fährt fort:

„Einen neuen Charakter erhält der Planet durch diese starke kosmische Kraft.((Wernadskij bezieht sich hier auf die Strahlung, vor allem die Sonnenstrahlung, die aus dem All auf die Erde trifft.)) Die Strahlung, die auf die Erde einwirkt, läßt die Biosphäre Eigenschaften annehmen, die auf unbelebten Planetenoberflächen unbekannt sind, und verwandelt das Antlitz der Erde. Durch die Strahlung angeregt, sammelt und umverteilt die Materie der Biosphäre die Sonnenenergie und verwandelt sie letztlich in freie Energie, die auf der Erde Arbeit verrichten kann.

Die Außenschicht der Erde darf deswegen nicht allein als Region von Materie betrachtet werden, sondern auch als Region von Energie und als Quelle für die Transformation des Planeten. Äußere kosmische Kräfte gestalten in hohem Maße das Antlitz der Erde, und deswegen unterscheidet sich die Biosphäre historisch von anderen Teilen des Planeten. Die Biosphäre spielt eine außergewöhnliche planetare Rolle.“((Hervorhebung hinzugefügt.))

Von dieser These ausgehend entwickelt und dokumentiert Wernadskij in Die Biosphäre streng wissenschaftlich die wirkmächtige und extraterrestrische Natur des Lebens auf der Erde. In der Tradition Keplers löst Wernadskij die Trennung zwischen Leben und Kosmos auf.

Fritz Lang (rechts) mit Kameramann Curt Courant (Mitte) bei den Dreharbeiten zum Film Frau im Mond (1929). Quelle: Wikimedia, Bundesarchiv

In der gleichen Periode befaßte Wernadskij sich auch mit dem einzigartigen Wirken des menschlichen Lebens auf der Erde. Er stellte fest, daß nichtmenschliches Leben durch seinen Metabolismus – Ernährung und Atmung – das Antlitz der Erde verwandelt, indem es neue chemische Verbindungen und Mineralien erzeugt und diese neuen Mineralien ablagert, was die Geochemie des Planeten prägt. Dagegen hat sich die Biologie des Menschen seit Zehntausenden von Jahren, wenn nicht länger, kaum verändert.((In seiner Schrift Wissenschaftliches Denken als planetares Phänomen von 1938 bemerkt Wernadskij in einem amüsanten Seitenhieb auf gewisse Anthropologen, daß der menschliche Schädel, der das Gehirn enthält, seit Jahrtausenden ungefähr die gleiche Größe und Struktur hat. Die Größe des Gehirns ist also nicht entscheidend.)) Aber während dieses Zeitraums hat sich die Einwirkung des Menschen auf den Planeten in ganz beispielloser Art und Weise verändert.

Man vergleiche nur, wie sich die Quantität und Qualität der Materialien, die wir als Gattung erschaffen und nutzen, im Laufe der letzten tausend Jahre verändert hat – oder sei es auch nur in den letzten Jahrzehnten! Man vergleiche, wo Menschen heute leben können und wie sie leben können, verglichen mit der Zeit vor einigen Jahrzehnten. Wie Wernadskij bemerkt: Wenn man den Menschen betrachtet, hat er sich als Gattung durch die Macht der Vernunft dermaßen verwandelt, daß im frühen 20. Jahrhundert die Veränderung des Planeten durch den Einfluß menschlichen wissenschaftlichen Denkens und Handelns stärker wird als die Veränderung der Biosphäre. Und das, obwohl auch die Biosphäre ihre Wirkung auf den Planeten im Laufe der Evolution erhöht hat.

Wernadskij nennt den Zustand des Planeten, worin die menschliche Vernunft der vorherrschende Faktor der Entwicklung ist, die Noosphäre. Das brachte ihn zu der Frage, die er 1945 in einer kurzen Schrift stellte:

„Hier ist ein neues Rätsel für uns entstanden. Denken ist keine Form der Energie. Wie kann sie dennoch materielle Prozesse verändern?“((Wernadskij, „Einige Anmerkungen über die Noosphäre“, in FUSION 2/2005, S. 33-37.))

Krafft Ehrickes Sicht des Menschen im Kosmos

Krafft Ehrickes Denken und Werk war stark von ähnlichen Überlegungen geprägt. In einem Interview erinnerte sich Ehricke 1977 an seine Reaktion auf den Film Frau im Mond, als er zum ersten Mal auf den Gedanken kam, daß sich menschliches Leben auch außerhalb der Erde entwickeln könne.

„Er beeindruckte mich gewaltig. Ich war damals zwölf Jahre alt, und er brachte mir urplötzlich ins Bewußtsein: Man könnte diesen Planeten verlassen und in eine neue Welt aufbrechen! Und da ich schon damals auf ganz einfache Weise an Geschichte, Astronomie und der Evolution des Menschen interessiert war, entstand daraus für mich ein ungeheurer Drang, mich mit dem Weltall zu beschäftigen. Nachdem ich zwei oder drei Jahre lang Bücher gelesen habe usw., war ich der festen Überzeugung, daß dies ein Bereich der Technologie war, dem ich mein Leben widmen wollte.“

In späteren Schriften verwendete Ehricke das Bild der „Sauerstoff-Katastrophe“ in der Evolution des Lebens, um etwas über die menschliche Gesellschaft auszusagen. Als sich das Leben aus den Meeren heraus entwickelte und die Photosynthese entstand, Lebewesen ihre Nahrung also aus dem Sonnenlicht zogen, sammelte sich der durch die Photosynthese erzeugte Sauerstoff in der Atmosphäre an. Sauerstoff, eine hochreaktive Substanz, war für das damalige Leben Gift, und seine Akkumulation „verschmutzte“ die Umwelt. Aber das Leben entwickelte eine neue Technik, den Sauerstoff-Metabolismus, so daß aus dem giftigen Abfallprodukt eine Ressource wurde.

Ein automatisiertes Mondräumgerät, das auf dem felsigen und staubigen Mondboden eine Landebahn für Transport- und Passagierfahrzeuge vorbereitet.

In seiner Rede „Das Erbe von Apollo“ sagte Ehricke 1974 über die Lösung, die das Leben für die „Sauerstoff-Katastrophe“ fand:

„Der Sauerstoff… war kein Abfallprodukt mehr, sondern verstärkte die Evolution von Tieren, die Schaffung einer stabilen Biosphäre durch deren Ausbreitung in alle Bereiche der irdischen Umwelt, die Entwicklung von Sensoren und des Gehirns und schließlich das Entstehen menschlicher Lebensformen.“

Der Mensch, so erkannte Ehricke dann, unterliegt als Vernunftwesen grundsätzlich keinen Begrenzungen, die ihn an die Erde fesseln würden, und ist deshalb von Natur aus auch ein Bestandteil des Kosmos. Wenn der Mensch nach dem Kosmos greift, indem er den Raketenflug entwickelt, so ist das absolut notwendig und ganz natürlich. Ehricke sagte:

„Wir sind dem Wesen nach kosmische Geschöpfe, aufgrund der Energie, mit der wir arbeiten, und aufgrund des ruhelosen Geistes, der unablässig Informationen vom Kleinsten bis zum Unendlichen verarbeitet; und mit der Infrastruktur des Wissens verfolgen wir allen Widrigkeiten zum Trotz unsere moralischen und sozialen Ziele für eine größere und bessere Welt. Durch Intelligenzen wie wir selbst bewegt sich das Universum – und wir darin – in den Mittelpunkt der Selbsterkenntnis. Metallerz verwandelt sich in informationsverarbeitende Computer, Satelliten und Raumsonden; und Atome werden verschmolzen wie in den Sternen. Ich kann mir keine düsterere, apokalyptische Vision der Zukunft vorstellen als eine mit kosmischen Kräften ausgestattete Menschheit, die zur Isolationshaft auf einem kleinen Planeten verdammt ist.“

Den extraterrestrischen Imperativ verwirklichen

Aber wie soll man es anfangen, das Schicksal des Menschen als kosmische Gattung zu verwirklichen? Ehricke war sich darüber bewußt, daß der Mensch keine Gattung von Raumfahrern wird, bloß indem er sich in eine Rakete setzt und durch den leeren Raum fliegt, oder einfach nur seinen Fuß auf einen fremden Planeten setzt; ganz im Gegenteil. Der Mensch bewegt sich nicht hinaus in den leeren Raum; der Mensch holt sich den extraterrestrischen Raum – angefangen mit dem Mond und dem cislunaren Raum – in seinen Wirkungsbereich, in die Noosphäre hinein. Mit Hilfe seiner Vernunft muß der Mensch den außerirdischen Raum zu einem für menschliches Leben und Arbeiten geeigneten Bereich umgestalten. Dabei wird nicht nur der außerirdische Raum durch unser Wirken nach und nach verändert, auch die Menschheit selbst wird sich grundlegend verändern, wobei sich jedoch nicht genau vorhersagen läßt, in welcher Weise.

In den letzten Jahrzehnten seines Lebens konzentrierte Ehricke sich auf Vorschläge für die systematische Erweiterung der Noosphäre (auch wenn er dieses Wort nicht verwendete) in den cislunaren und lunaren Raum. Als er 1984 starb, arbeitete er an einem Programm zur Industrialisierung des Mondes. In der posthum erschienenen Schrift Die Industrialisierung des Mondes((FUSION Vol. 3, Nr. 2 und 3, 1982.)) sind einige seiner Vorschläge niedergelegt.

Ehricke entwickelt darin seine Vorstellungen zur Entwicklung des Mondes:

„Er ist allein mit einer Fläche, der fast der von Nord- und Südamerika zusammen entspricht, groß genug, um eine Zivilisation zu tragen und mit einer starken Industriewirtschaft zu unterlegen, einer Industrie, die auf hochentwickelten nuklearen, kybernetischen, biotechnischen und rohstoffverarbeitenden Technologien basiert und letztendlich große Bereiche des Mondes in eine üppige Oase des Lebens verwandeln wird, die schließlich in der Lage ist, sogar Nahrungsmittel zu Stationen in der Umlaufbahn, wenn nicht sogar zur Erde, zu exportieren.“

In dem Abschnitt „Eine Entwicklungsstrategie für den Mond“ schreibt Ehricke weiter:

„Die Mondindustrie sollte als ein Organismus betrachtet werden, der im Laufe der Zeit zunehmend komplexere Fähigkeiten und ein hinreichendes, starkes Fundament für eine wachsende Bevölkerung und sich ausdehnende kulturelle Aktivitäten schafft. Die Mondindustrie muß breit aufgestellt und vielfältig sei, wenn sie dauerhaft sein soll. Die Notwendigkeit wirtschaftlicher Machbarkeit und frühzeitiger Erträge erfordert ein geschicktes Zusammenspiel von markt/verbraucherorientierten Produkten und Dienstleistungen und Infrastruktur-Investitionen wie Transport, Energie und Boden/Raum-Installationen, welche die Nahrungsmittelproduktion erweitert und die industrielle Produktivität diversifiziert.“

Nach Aufzählung mehrerer Stufen seiner Entwicklungsstrategie fährt Ehricke fort:

„Diese Prinzipien… sollen einen ständigen Fortschritt bewirken; schnelle Wirtschaftlichkeit durch fortlaufende Produktivität; und Versorgungskrisenresistenz. (Letztere sorgt dafür, daß die auf dem Mond Tätigen nicht zur Erde zurückkehren müssen, weil sie ihr Leben auf dem Mond ohne wichtigen Nachschub von der Erde nicht aufrechterhalten können.)“

Das ist eine langfristige Perspektive, die darin besteht, daß die Noosphäre sowie die Selbstversorgung und Entwicklungskraft des Menschen von der Erde auf den Mond übertragen wird. Um das zu erreichen, definiert Ehricke fünf Entwicklungsstufen, deren letzte die Gründung der Mondstadt Selenopolis ist.((Selene war die antike griechische Mondgöttin.))

Krafft Ehricke beschreibt Selenopolis folgendermaßen:

„Selenopolis [ist] ein Stadtstaat und Sitz lunarer Zivilisation und Biosphäre. Überdachungen mit einer Länge von 500 Metern bis zu mehreren Kilometern und einer Höhe von 500 Metern und mehr werden sich allmählich über viele Kilometer auf der Oberfläche ausdehnen, und an manchen Stellen werden sich die Einrichtungen auch in den Untergrund fortsetzen. Zusätzliche Sektionen und Abzweigungen, deren Bau von früheren Erfahrungen und den sich fortwährend weiterentwickelnden lunaren Technologien profitiert, kommen in dem Maße hinzu, wie die Mondbevölkerung wächst. Knotenpunkte dienen als Energie-, Versorgungs- und Klimakontrollzentren…

Diese Entwicklungsstufe ist von einem starken wirtschaftlichen Fundament, einem hohen Grad der Selbstversorgung, besonders bei der Nahrungsmittelproduktion, und einer starken Kernfusionsbasis abhängig.“

Da die von Ehricke anvisierte Mondzivilisation wirtschaftlich weitgehend autark sein wird, stellt er eine provozierende Frage:

„Wird er [der Mond] eine Kolonie der Erde sein, Teil einer terrestrischen Menschheit, oder eine unabhängige politische Einheit, wo Selenoiden über ihre eigene Welt bestimmen? Das riesige Potential einer lunaren Ökonomie, die auf Fusionsenergie basiert, macht die zweite Alternative möglich und damit wahrscheinlich.“

Die Gründung eines solchen Stadtstaates auf dem Mond kommt nicht aus dem Nichts. Damit Selenopolis möglich wird, müssen vorher bestimmte Entwicklungsstadien durchlaufen werden, um die entsprechenden Kapazitäten zu schaffen.

Eine ganz entscheidende Kapazität dabei ist die volle Nutzung der Mondressourcen. Das reicht von der ersten Entwicklungsstufe, der einfachen Suche nach vorhandenen Mineralien auf der Mondoberfläche, bis hin zum Bau automatisierter Bergwerke, die von Menschen gesteuert werden, die in einer Raumstation im Mondorbit leben. Außerdem fordert Ehricke eine rasche Einrichtung von Produktionsstätten für Sauerstoff, der sowohl für die Lebenserhaltungssysteme als auch für den Raketenantrieb notwendig ist.

Die fortgeschrittenste Stufe der Erschließung von Mondressourcen ist die Einrichtung eines „Zentralen Lunaren Verarbeitungskomplexes“ (ZLVK) – eine Anlage zur Verarbeitung von Rohstoffen, u. a. Aluminium, Silikon, Eisen, Glas; Halbfertigprodukten wie Silikonchips, Sonnenzellen, Metallpulver; und schließlich Endprodukten wie Maschinen, Strukturen von Weltraumsiedlungen usw. Die Grundstoffe hierfür werden von weiter entfernten Zulieferstationen, wo Rohstoffe von der Mondoberfläche abgebaut werden, zu den ZLVK transportiert. Dieser Transport läuft entweder über elektrische Bahntrassen oder mit Hilfe einer neuen Technik, die Ehricke als erster vorgeschlagen hat: Man könnte die Güter auf einer ballistischen Bahn in vorbereitete Krater katapultieren, wobei man sich die schwache Schwerkraft und fehlende Atmosphäre auf dem Mond zunutze macht.

Ein geolunares Frachtraumschiff, das regelmäßig Rohstoffe, Güter und andere Materialien zwischen Erd- und Mondorbit hin und her transportiert. Quelle: Krafft Ehricke

Eine weitere Voraussetzung für die Besiedlung des Mondes ist die Bereitstellung von genügend zuverlässiger Energie. Ehricke kam wie andere zu dem Schluß, daß die Kraftquelle auf dem Mond die Kernfusion sein sollte, und das im wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens dauert die Nacht auf dem Mond zwei Wochen, was Solarenergie ausschließt. Und noch wichtiger ist, daß der Energiebedarf für die Brennstoffgewinnung, Materialverarbeitung und ähnliches so hoch ist, daß keine Kraftquellen mit geringerer Leistung dafür ausreichen. Er verweist in dieser und anderen Schriften auch darauf, daß die kommerzielle Kernfusion aus verschiedenen Gründen auf dem Mond leichter zu erreichen ist als auf der Erde.((Siehe auch Krafft Ehricke, „Der extraterrestrische Imperativ“, FUSION, Vol. 4, Nr. 4, 1.10.1983, S. 29))

Der Transport ist eine weitere Voraussetzung. Wenn die Präsenz des Menschen auf dem Mond erweitert werden soll, ist die Schaffung einer entsprechenden Verkehrsinfrastruktur erforderlich. In einer ersten Phase schlägt Ehricke vor, mit Hilfe der existierenden Raketen- und Raumfahrzeugtechnik eine Flotte von Raumschiffen zu schaffen, mit der die benötigten Komponenten einer Zirkumlunaren Raumstation (ZRS) in den Mondorbit transportiert und dort zusammengesetzt werden.((In der Zeit nach Ehricke haben die Vereinigten Staaten und andere Nationen erfolgreich Stationen im Orbit zusammengesetzt und betrieben, wie die Internationale Raumstation ISS zeigt.)) Die ZRS wird vieles auf einmal sein: Laboratorium, Lebensraum für Forscher und Techniker, Raum für Freizeitgestaltung und Arbeitsplatz. Wissenschaftler können von dort mit einer Mondfähre zur Mondoberfläche gelangen und dort arbeiten.

Ehricke fordert auch den Aufbau einer Flotte geolunarer Frachtraumschiffe, die regelmäßig Rohstoffe, Güter und andere Materialien zwischen Erd- und Mondorbit hin und her transportieren. Im cislunaren Raum zwischen Erde und Mond müßten außerdem viele Auftankstationen eingerichtet werden, damit ein Großteil des Treibstoffs, der für Flüge zwischen Erde und Mond benötigt wird, nicht aufwendig von der Erde geholt werden muß. Dieses Konzept ist heute noch in der Diskussion.

Gedanken für die Zukunft

Wir erwähnen diese Beispiele aus Ehrickes Vision nicht, weil man sein Programm in allen Einzelheiten genauso umsetzen wird, wenn endlich die Industrialisierung des Mondes beginnt (obwohl die Autorin vermutet, daß man feststellen wird, daß viele von Ehrickes Vorschlägen ihrer Zeit weit voraus waren). Wir erwähnen sie, weil sie einem Geist entsprungen sind, der sich die Zukunft der Menschheit als ein Wachstum ohne Grenzen vorstellt. Ehrickes Vision basiert auf einem strengen, wissenschaftlichen Verständnis der Prinzipien negentropischen Wachstums, so wie man dies auch in Wernadskijs Werk sieht. Sie verkörpert eine Denkweise, die das gleiche Verständnis der menschlichen Geistesnatur wie bei Kepler widerspiegelt.

Das muß die Grundlage einer Renaissance der Raumfahrt heute sein. Bei allen konkreten Vorschlägen darf das Ziel eines unbegrenzten Fortschritts der Menschheit nicht aus dem Auge verloren werden.

Würdigen wir zum Abschluß Krafft Ehricke selbst und den großen Optimismus für die Zukunft der Menschheit, den er ausstrahlte. Er lebte in sehr schwierigen Zeiten, erst in Deutschland unter den Nazis, anschließend in einer unsicheren Lage in den Vereinigten Staaten, und am Ende mußte er sich gegen die Kampagnen fanatischer Umweltschützer und Sparpolitiker gegen die Raumfahrt wehren. Bei alledem behielt er immer sein optimistisches Menschenbild; er sah den Menschen nicht bloß als irgendein Lebewesen, das den Weltraum bevölkert, sondern als einen notwendigen und schönen Teil der Entwicklung des Universums.

Wenn sich nun die Vereinigten Staaten hoffentlich dem Neuen Paradigma der eurasischen Nationen anschließen, sollten wir uns daran erinnern, daß Krafft Ehricke als Deutscher geboren wurde, aber auch Amerikaner war. Das ist unser Erbe, und wir haben eine Verantwortung gegenüber dem Rest der Welt, wenn wir uns der Zusammenarbeit mit China, Rußland und allen anderen Ländern anschließen – fest entschlossen, zum unbegrenzten Fortschritt der Menschheit beizutragen.

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