Der irdische Nutzen der Weltraummedizin

Seit Beginn der Raumfahrt spielt die Medizin eine zentrale Rolle, um das Überleben von Menschen im Weltraum sicherzustellen und die Anpassung des menschlichen Organismus an die Bedingungen der Schwerelosigkeit zu verstehen. So hat sich die Weltraummedizin seit den 1960er Jahren zu einem Spitzenbereich der Lebenswissenschaften entwickelt, der sich zunehmend auch auf die irdische Medizin auswirkt. Im folgenden Artikel wollen wir einige Bereiche herausgreifen, in denen Entwicklungen der Weltraummedizin bereits großen Nutzen für die Behandlung und Überwachung von Patienten haben.

Als Jurij Gagarin am 12. April 1961 als erster Mensch einen Raumflug absolvierte, entstand auch ein neues medizinisches Fachgebiet – die Weltraummedizin. In der damaligen Sowjetunion und parallel auch in den Vereinigten Staaten begannen Ärzte und Physiologen, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Körperfunktionen sich beim Aufenthalt in der Schwerelosigkeit verändern, ob sie fortschreiten oder sich nach einer bestimmten Zeit wieder rückbilden, ob Astronauten oder Kosmonauten unter Weltraumbedingungen arbeiten können und wie man schon auf der Erde herausfinden könne, ob ein potentieller Raumfahrer für bestimmte Veränderungen besonders anfällig sein könnte.

Ironischerweise hat es die Weltraummedizin dabei fast ausschließlich mit kerngesunden, überwiegend jungen Menschen zu tun, aber es sind die lebensfeindlichen Bedingungen im Weltraum (Strahlung, Schwerelosigkeit, Isolation), die die größten Herausforderungen an die Medizin stellen, wenn gesichert werden soll, daß Menschen, die sich kürzer oder länger im Weltraum aufhalten, keine bleibenden Gesundheitsschäden davontragen.

Im Grunde gleicht die Weltraummedizin einer Intensivstation, auf der völlig gesunde Menschen auf Herz und Nieren untersucht werden, weshalb Raumfahrer zu den Menschen zählen, die die wohl beste medizinische Überwachung und Versorgung genießen, die wir auf der Erde bieten können.

In den mehr als fünf Jahrzehnten seit Beginn der bemannten Raumfahrt hat sich die Weltraummedizin zu einer hochspezialisierten, vielfältigen Disziplin entwickelt, die bis in die moderne Datenübertragung hineinreicht.

Auswahlkriterien

In der Anfangszeit der Raumfahrt kamen die Astronauten fast ausschließlich aus den Reihen der Militärpiloten, die bereits einer strengen ärztlichen Überprüfung unterzogen worden waren. Bevor aber ein Bewerber in den kleinen Kreis der tatsächlich ausgewählten Astronauten aufgenommen wurde, mußte er ein zusätzliches umfassendes Untersuchungsprogramm durchlaufen. Bis heute hat sich daran grundsätzlich nichts geändert. Die Anfänge dieses Auswahlverfahrens gehen in den Vereinigten Staaten auf das Jahr 1958 zurück, als damals die Astronauten für das „Projekt Merkur” bestimmt wurden, welches 1962 und 1963 beginnen sollte. Als bei späteren Missionen neben den Piloten auch Wissenschaftler und andere Spezialisten mitflogen, wurden für die Eignungsstandards weitere Kategorien geschaffen.

In Deutschland entstand 1990 das Europäische Astronautenzentrum (EAC), das heute für die Auswahl und das Training von Astronauten nicht nur aus Europa, sondern auch aus Rußland, Japan, Kanada und USA verantwortlich ist. Zu den ersten deutschen Astronauten am EAC gehörte Dr. Ulf Merbold, der bereits bei der ersten deutschen Spacelab-Mission 1983 mitgeflogen war.

Neben Auswahl, Ausbildung und Überwachung von Astronauten am Boden ist es eine der Hauptaufgaben der Weltraummedizin, den Gesundheitszustand der Raumfahrer im Weltraum zu überwachen und Veränderungen sämtlicher Organ- und Lebenssysteme zu kontrollieren. Sehr schnell erkannte man, daß sich zahlreiche physiologische Prozesse nach Eintritt in die Schwerelosigkeit verändern (Abbildung 1). Einige Änderungen setzen unmittelbar ein (etwa Irritationen des Gleichgewichtssystems), andere erst etwas zeitverzögert. Einige Werte stabilisieren sich nach etwa sechs Wochen auf einem Niveau, das sich aber von den irdischen Ausgangsbedingungen unterscheidet, einige Änderungen scheinen kontinuierlich weiter anzusteigen. Zu letzteren gehören vor allem die kumulativen Strahlungseinwirkungen und der Abbau von Knochen- und Muskelsubstanz.

Abbildung 1. Physiologische Veränderungen bei langem Aufenthalt in der Schwerelosigkeit. Datenmaterial aus drei Jahrzehnten bemannter Raumfahrt liefert den Wissenschaftlern einen Überblick darüber, was mit dem Menschen unter Bedingungen der Schwerelosigkeit passiert: Kalziumverlust, Gewichtsverlust und mögliche kumulative Strahleneinwirkungen scheinen kontinuierlich anzusteigen. Andere physiologische Prozesse verändern sich in der Anfangsphase des Fluges, wenn auch nicht unbedingt zeitgleich. Nach etwa sechs Wochen Flugdauer stabilisieren sie sich auf einem Niveau, das sich von den irdischen Ausgangsbedingungen unterscheidet. (Quelle: A.E. Nicogossian und J.F. Parker, Space Physiology and Space Medicine, NASA, 1982)

Vor allem in der frühen Phase der bemannten Raumfahrt, aber auch noch bei der heutigen Internationalen Raumstation (ISS) wünschten sich die Raumfahrtmediziner eine bessere und vor allem schnellere Übertragung jener Meßdaten, die den Gesundheitszustand der Raumfahrer in jeder Phase des Fluges wiedergeben. Messungen von Herzfrequenz, Blutdruck, Hirnströmen, Atemvolumen usw. konnten in den Anfängen der Raumfahrt erst nach Rückkehr zur Erde ausgewertet werden, von der Analyse von Blut-, Urin oder Stuhlproben einmal ganz abgesehen. Inzwischen verfügen wir über miniaturisierte Laboranalysegeräte, deren Daten nach einer Zwischenspeicherung direkt zur Bodenstation übermittelt werden können.

Große Fortschritte

Tatsächlich war der begrenzende Faktor bei der Übermittlung solcher und anderer wissenschaftlicher Daten von der ISS die langsame Geschwindigkeit der Funkwellen zur Erde. Erst 2009 hat die NASA an Bord der ISS ein neues System zur Datenübertragung installiert, das Daten mit einer vierfach höheren Datendurchsatzrate zur Erde übertragen kann als das bisherige System, das noch an die Anfangszeiten des Internets erinnert.

Im Gegensatz zum alten TCP/IP, bei dem die Besatzung der ISS sogar feste Termine für den Datenverkehr vereinbaren mußte, basierte das neue System auf DTN (Delay Tolerant Networking), einem verzögerungstoleranten Kommunikationsprotokoll, was den Problemen der Datenübertragung im Weltall entgegen kommt. Verloren gegangene Daten werden zu einem späteren Zeitpunkt automatisch erneut übertragen.

DTN ermöglicht einen wesentlich intensiveren und einfacheren Datenaustausch zwischen Raumstation, Raumschiffen und Bodenstationen – quasi ein „interplanetarisches Internet“, wie es auch die NASA bezeichnet.

Doch auch diesem System sind aus physikalischen Gründen Grenzen gesetzt. Eine neue Größenordnung der Übermittlungsgeschwindigkeit eröffnet sich jedoch jetzt bei der Verwendung von Laserlicht zur Datenübertragung. Laserlicht hat den Vorteil, daß die Frequenz, also die Schwingungszahl der Lichtwelle pro Zeiteinheit, wesentlich höher als bei Funkwellen ist. Dementsprechend können mehr Informationen in der gleichen Zeit übertragen werden. Gleichzeitig bietet das Vakuum im Weltraum optimale Ausbreitungsbedingungen für Laserlicht, so daß es sich besonders für die Verbindung zwischen zwei Satelliten eignet.

Wie die Raumfahrtagentur Roskosmos mitteilte, wurden Ende Januar 2013 erstmals wissenschaftliche Informationen per Laser von der ISS zur Erde geschickt. Von einem Laserterminal im russischen Teil der ISS seien Daten mit einer Übertragungsrate von 125 Megabyte pro Sekunde (MB/s) zur Erde und mit 3 MB/s von der Erde zurückgeschickt worden.

Führend beteiligt an der Entwicklung der Laser- Datenübertragung ist auch die mittelständische deutsche Firma Tesat-Spacecom GmbH in Backnang. Sie hat in Zusammenarbeit mit dem DLR und der Schweizer Firma RUAG ein Laser-Terminal entwickelt, das bereits erfolgreich im All erprobt wurde. Auch die NASA hat inzwischen ein Lasersystem für die ISS entwickelt. Die Vorteile, die sich dadurch für die schnelle Datenübertragung nahezu in Echtzeit ergeben, spielen für die Übermittlung wissenschaftlicher Daten eine entscheidende Rolle, kommen natürlich auch der Gesundheitsüberwachung von Astronauten in der ISS zugute und lassen sich außerdem für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf der Erde nutzen. Das betrifft den gesamten Bereich der Telemedizin.

Die Herausforderung für die Raumfahrtmedizin besteht darin, die Gesundheit der Astronauten an Bord eines Raumschiffes so nichtinvasiv wie möglich zu überwachen, d. h. die Überwachung der Lebensfunktionen soll die Arbeitsfähigkeit so wenig wie möglich einschränken. Da der Raumfahrer nicht selbst einfach zum Arzt um die Ecke gehen kann, muß der medizinische Spezialist mittels Telemedizin zu ihm „nach Hause“ (in die Raumstation) kommen.

Genau das gleiche Prinzip gilt in vielen Fällen auch für die medizinische Versorgung auf der Erde. Denn überall auf der Welt, wo in entlegenen Gebieten keine oder nur eine sehr begrenzte Gesundheitsversorgung möglich ist, ließe sich mit Hilfe der modernen Satellitenkommunikation eine sehr viel bessere medizinische Überwachung und Versorgung einrichten. Solche Gebiete könnten der Regenwald des Amazonas, Wüstenregionen in Afrika, aber auch strukturschwache Landkreise in Bayern oder Niedersachsen sein, wo der Weg zum nächsten Arzt weit ist oder Untersuchungstermine beim Facharzt erst nach mehreren Monaten Wartezeit zu bekommen sind. Solche Systeme könnten aber genausogut in Katastrophengebieten nach Erdbeben, Tsunamis oder großflächigen Bränden zum Einsatz kommen, wo landgestützte Kommunikationssysteme häufig als erstes ausfallen.

Nicht zuletzt könnte die Telemedizin auch bei der häuslichen Versorgung alter oder chronisch kranker Menschen helfen, die selbst nur mit großem Aufwand in die ärztliche Praxis gebracht werden können. Es gibt bereits mehrere dank der Raumfahrttechnik entwickelte Hilfsmittel für die Übermittlung medizinischer Daten, die selbst von Laien oder medizinischem Hilfspersonal bedient werden können.

Ein Beispiel hierfür ist ein einfaches Ultraschallgerät (Abbildung 2), das mit Geldern der ESA entwickelt wurde. Wenn der Tastkopf auf den Bauch oder eine andere Körperstelle gebracht wird, läßt sich das Gerät praktisch von jedem beliebigen Ort von einem Arzt mit einem „Joystick“ fernsteuern. Aufgrund der so erstellten Diagnose könnte dann gezielt eine Behandlung angeordnet werden. In Frankreich ist ein solches „Fernultraschallgerät“, das von drei mittelständischen Unternehmen hergestellt wird, bereits im Einsatz.

Abbildung 2. Mit Mitteln der ESA entwickeltes ferngesteuertes Ultraschallgerät

Ein weiteres Gerät (Abbildung 3) dient dazu, Blutdruck- und EKG-Daten aufzuzeichnen und automatisch an das nächste Krankenhaus zu übertragen. Es wurde vor einigen Jahren bereits in Haiti eingesetzt und inzwischen weiter miniaturisiert.

In Frankreich wird zur besseren Behandlung von Diabetespatienten auf dem Land seit kurzem das sogenannte DIABSAT-Programm erprobt, für das ein Kleintransporter mit verschiedenen Diagnosegeräten und einer Satellitenanlage für die Datenübertragung ausgerüstet wurde. In einer Art Reihenuntersuchung führt darin eine Pflegekraft an Patienten verschiedene Tests durch, die den Schweregrad einer Diabeteserkrankung anhand des Augenhintergrundes, der Durchblutung und Sensibilität der Extremitäten, der Nierenfunktion u. a. ermitteln. Auf Grundlage der übermittelten Daten kann ein Arzt, der im nächstgelegenen Krankenhaus die Befunde auswertet, geeignete Maßnahmen einleiten, so gegebenenfalls die sofortige Einweisung in eine Klinik. Im Rahmen einer Studie hat sich das DIABSAT- Programm bereits bewährt. Zwischen Oktober 2010 und Juni 2011 wurden 1000 Patienten untersucht und 3500 Tests durchgeführt. Im Ergebnis fiel besonders auf, daß nach den Untersuchungen etwa 240 Patienten eine sofortige stationäre Behandlung brauchten – eine unerwartet hohe Zahl, die zeigt, wie bedrohlich eine eventuell unentdeckt gebliebene Zuckerkrankheit sein kann und mit welch einfachen und kostengünstigen Mitteln auf Grundlage moderner Datenübertragungssysteme Patienten geholfen werden kann.

Abbildung 3. Mobiles Gerät zur EKG- und Blutdruckmessung, dessen Daten automatisch an das nächste Krankenhaus übertragen werden

Zur breiteren Einführung dieser technischen Möglichkeiten bedarf es jedoch noch eines nachhaltigen Umdenkens. Es finden zwar bereits routinemäßig telemedizinische Fachkonsultationen zwischen Fachärzten in Kliniken und/oder Hausärzten statt, doch die Möglichkeiten zur medizinischen Betreuung alter oder chronisch kranker Patienten im häuslichen Umfeld über den bereits gängigen „Notfallknopf“ hinaus werden noch kaum genutzt. Auf diese Weise ließe sich nicht nur eine größere Sicherheit für die Patienten erreichen, sondern auch viele unnötige Krankenhauseinweisungen vermeiden.

Wird Osteoporose heilbar?

Eine Erscheinung, die beim Aufenthalt in der Schwerelosigkeit auf lange Sicht am bedrohlichsten erscheint, ist ein stetiger Abbau der Knochensubstanz und ein Muskelschwund, der sich auch durch intensives Training in der Raumstation nicht vollständig unterbinden läßt. Ob daran allein die mangelnde Belastung des Skeletts aufgrund der fehlenden Schwerkraft schuld ist oder noch andere Mechanismen eine Rolle spielen, bleibt noch zu klären, aber durch den Knochen- und Muskelabbau fallen erhebliche Mengen an Kalzium sowie auch Stickstoff, Kalium und Phosphor an, die über Leber und Niere ausgeschieden werden (Abbildungen 4 und 5). Anders als bei den meisten anderen physiologischen Veränderungen in der Schwerelosigkeit scheint sich hierbei selbst bei langen Aufenthalten im All kein Gleichgewicht einzustellen, d. h. der Abbau schreitet kontinuierlich voran. Ein ganz ähnliches Bild bietet sich beim Knochenabbau im Alter, besonders bei Frauen, die aufgrund ihrer porösen Knochenstruktur bei Stürzen ein hohes Frakturrisiko haben.

Abbildung 4. Kontinuierlicher Gewichtsverlust während des Fluges. Neben den Flüssigkeitsverlusten führt der beständige Verlust an Knochensubstanz und Muskelatrophie zu langfristigen Verlusten an Körpermasse. Dargestellt sind hier die Gewichtsbestimmungen des Wissenschaftlerpiloten während der Mission von Skylab 3

Aus Berechnungen geht hervor, daß Menschen in der Schwerelosigkeit pro Monat fast ein Prozent ihrer Knochensubstanz verlieren, selbst wenn sie intensiv trainieren. Auf dieser Grundlage ist es sehr zweifelhaft, ob Menschen eine Reise zum Mars, bei der sie mehrere Jahre der Schwerelosigkeit ausgesetzt sind, ohne irreversible Schäden überleben können, denn es wäre verhängnisvoll, wenn Raumfahrer, glücklich auf dem Mars angekommen, keine Muskelkraft mehr zum Stehen oder Gehen und brüchige Knochen hätten. Aus Tierversuchen weiß man, daß Knochen nach dem Verlust von 20–25 % ihres Mineraliengehalts brüchig werden, d. h. das Trabekelnetzwerk im Knocheninneren löst sich immer mehr auf und verliert seine Regenerationsfähigkeit. Kommt es unter diesen Umständen zu Knochenbrüchen, ist unklar, ob die Bruchstücke in der Schwerelosigkeit überhaupt wieder zusammenwachsen.

Abbildung 5. Kalziumverluste während des Aufenthalts im All. Das Urinkalzium nahm nach dem Start rapide zu, um nach 30 Tagen Flugdauer ein Plateau zu erreichen. Im Gegensatz dazu stiegen die Kalziumverluste über den Stuhl während des gesamten Fluges kontinuierlich an. Es ist noch ungeklärt, ob die Kalziumverluste auch bei längeren Flügen unaufhörlich weitergehen. (Quelle: A.E. Nicogossian und J.F. Parker, Space Physiology and Space Medicine, NASA, 1982)

In der Weltraumforschung wird deshalb mit Hochdruck an Methoden geforscht, wie sich der potentiell gefährliche Muskel- und Knochenschwund verlangsamen oder ganz verhindert werden kann. Im Prinzip gibt es dafür zwei Möglichkeiten:

  1. Im Raumschiff selbst wird eine künstliche Schwerkraft erzeugt, so daß die Raumfahrer ihre gewohnte Gravitationsumgebung einfach mitnehmen und aufgrund der gleichen Arbeitsbelastung für Knochen und Muskeln gar kein Abbau auftritt. Für eine Reise zum Mars müßte hierfür ein Antriebssystem eingesetzt werden, mit dem das Raumschiff auf der Hälfte der Strecke mit 1 G beschleunigt und auf der anderen Hälfte mit 1 G wieder abgebremst wird. Ein solcher Antrieb müßte auf der Kernfusion basieren; nur sie könnte den geeigneten Schub bei minimalem Treibstoffverbrauch erzeugen. Deswegen muß auf der Erde mit Hochdruck an der Entwicklung eines Kernfusionskraftwerks gearbeitet werden, das nicht nur eine praktisch unbegrenzte Energieversorgung auf der Erde gewährleisten würde, sondern in abgewandelter Form auch als Raketenantrieb eingesetzt werden könnte.
  2. Bis es soweit ist, müssen Trainingsmethoden entwickelt werden, die noch weitaus effektiver sind als die bisher eingesetzten Übungen für Astronauten, die sich lange in der Schwerelosigkeit aufhalten.

Vielversprechende Ergebnisse in dieser Hinsicht haben in den letzten Jahren Forschungsarbeiten am Zentrum für Muskel- und Knochenforschung der Berliner Charité unter Prof. Dieter Felsenberg gebracht. 2004 wurden in der Berliner Bed-Rest-Studie (BBR), d. h. an Versuchspersonen unter simulierten Schwerelosigkeitsbedingungen, Gegenmaßnahmen getestet, die auch auf einem Weltraumflug oder auf der ISS eingesetzt werden können. 20 junge, gesunde Männer wurden acht Wochen lang ins Bett gelegt. Die eine Hälfte wurde zum Nichtstun verurteilt, während die andere Hälfte mit einem extra für diese Anwendung entwickelten Gerät trainierte, um die Muskeln und damit die Knochen zu erhalten. Die Trainingszeiten sollten möglichst kurz sein, denn auch im Weltraum sollen die Raumfahrer damit zeitlich wenig belastet werden. Das Übungsgerät bestand aus offensichtlichen Gründen nicht aus Gewichten, denn die wären in der Schwerelosigkeit ebenfalls schwerelos. Zum Einsatz kam deswegen eine Plattform, welche über einen Motor um eine zentrale Achse zum Schwingen gebracht wird und auf die die Probanden mit den Beinen gedrückt werden. Der Effekt davon ist, daß die Beine auf der einen Seite leicht entspannt und gleichzeitig auf der anderen Seite stärker zusammengedrückt werden und so ein schneller Wechsel von Muskelkontraktionen und -entspannungen auftritt. Erhöht man die Schwingungen dieses Galileo Space genannten Gerätes auf ca. 26–27 Hz, so führen die Beine in vier Minuten so viele Muskelzyklen aus, wie bei einem 10.000-Meter-Lauf. In dem Bericht über die Bed-Rest-Studie hieß es:

„Dieses Training ist hocheffizient und erzeugte bei den trainierenden jungen Männern eine 75 Prozentige Zunahme an dynamischen Muskelfasern des Typs II a, während die Kontrollgruppe etwa 25 % an diesen Fasertypen verloren hat. Dies wurde mittels Muskelbiopsien belegt. Es ist wichtig, daß gerade diese Fasertypen bevorzugt entwickelt werden, da diese für die dynamische Kraftentwicklung verantwortlich sind – Kräfte, die in der Lage sind, den Knochen so stark zu verformen, daß dieser zum Aufbau oder Erhalt stimuliert wird. Eines der wichtigsten Ergebnisse der BBR-Studie war, daß über das Galileo-Trainingssystem, trotz künstlicher Schwerelosigkeit, die Muskelkraft der trainierenden jungen Männer weitgehend erhalten und auch ein Knochenverlust verhindert werden konnte. In der Kontrollgruppe wurde ein Verlust an Muskelkraft von bis zu 30% gemessen und ein Abbau des Knochens von 3–4 %.“

Dieser überraschend einfache „Trick“, mit einer Vibrationsmaschine die Muskeln passiv zu Hochleistungen anzuregen, könnte tatsächlich einen Ausweg aus dem bisher ungelösten Problem des Knochen- und Muskelschwunds in der Schwerelosigkeit bedeuten. Darüber hinaus liegt nahe, daß diese Erkenntnisse auch dem Menschen im normalen Schwerekraftfeld der Erde zugutekommt, wie z. B. bei Osteoporose, bei Osteogenesis imperfecta, beim Morbus Parkinson, nach Halbseitenlähmungen, inkompletten Querschnittslähmungen, Muskeldystrophien etc.

In einer abschließenden Erklärung betonte Prof. Felsenberg:

„Der Benefiz dieser weltraummedizinischen Studie für die ‚terrestrische‘ Medizin liegt auf der Hand: die detaillierte Kenntnis über Entstehungsmechanismen von Muskel- und Knochenschwund sind die Voraussetzung für die Entwicklung innovativer Therapiestrategien z. B. bei Osteoporose. Gedacht werden könnte an die Ergänzung von medikamentöser Behandlung von Osteoporose-Patienten mit gezielter Bewegungstherapie. Von dem krankhaft beschleunigten Knochenabbau sind inzwischen über fünf Millionen Menschen allein in Deutschland betroffen. Mit Behandlungskosten für Spätfolgen von jährlich ca. fünf Milliarden Euro zählt Osteoporose zu den kostenintensivsten Volkserkrankungen. Wirksamere Therapiekonzepte könnten die Krankheitslast sowohl für Betroffene und als auch für die Kassen des Gesundheitswesen spürbar verringern.“

Weitere Technologien der Weltraumforschung

  • Doppelsensor: Eine Arbeitsgruppe an der Charité Berlin hat in enger Zusammenarbeit mit den Drägerwerken ein neuartiges nichtinvasives Meßgerät, einen sogenannten Doppelsensor, zur Messung der Körperkerntemperatur entwickelt. Bei Astronauten ist dieser Wert wichtig, da es beim Eintritt in die Schwerelosigkeit zu einer raschen Umverteilung von Blut von der unteren in die obere Körperhälfte kommt. Das hat auch Folgen für den Wärmehaushalt, so daß Astronauten oft über kalte Füße und Finger klagen. Bei Arbeitseinsätzen außerhalb der Raumstation sind sie darüber hinaus extremen Umweltbedingungen ausgesetzt: + 200 °C in der Sonne, – 180 °C im Schatten. Da die Arbeit in den Raumanzügen körperlich sehr anstrengend ist, bildet der Körper große Wärmemengen, was innerhalb kürzester Zeit zu einem gefährlichen Anstieg der Körperkerntemperatur auf mehr als 39 Grad Celsius führen kann. Zur kontinuierlichen Erfassung der Körperkerntemperatur erfaßt der Doppelsensors am Kopf oder auf dem Brustbein den Wärmefluß, der mit Hilfe spezieller Algorithmen in die Körperkerntemperatur umgerechnet wird. Zusammen mit anderen Parametern wie der Herzfrequenz lassen sich so bei Astronauten, aber auch bei anderen Personen in besonderen Arbeitssituationen Gefährdungen frühzeitig erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen. Einsatzmöglichkeiten des Doppelsensors auf der Erde wären Berufsgruppen wie Feuerwehr, Polizei und Sondereinsatzkräfte oder auch Krankenhaus bei Operationen und im Neugeborenen-Inkubator.
  • Knorpel aus dem Weltraum: Bei einer großen Zahl von Knieverletzungen könnte der Ersatz des beschädigten Knorpels durch neues Material, das dem menschlichen Gewebe ähnelt und vom Immunsystem nicht abgestoßen wird, vielen Patienten helfen. Bisher war die Medizinforschung nur sehr beschränkt in der Lage, solche künstlichen Knorpel für Implantationen herzustellen, da menschliche Zellen unter dem Einfluß der Gravitation nur zu flachen Gewebestrukturen ohne die erforderliche räumliche Ausdehnung zusammenwachsen. Unter Schwerelosigkeit dagegen soll das Wachstum des Gewebes sehr viel besser dreidimensional erfolgen. Mit einem speziell für den Einsatz im Weltraum entwickelten sogenannten Bioreaktor wollen Forscher die Faktoren dieses Wachstums genau bestimmen.
  • „Pinguin“-Anzug gegen Kinderlähmung: Der in Rußland entwickelte Belastungsanzug „Pinguin“ wird inzwischen mit Erfolg in der irdischen Medizin angewendet. Der Anzug, den die Kosmonauten an Bord russischer Orbitalstationen seit Mitte der 70er Jahre tragen, beugt im All dem Muskel- und Knochenschwund vor. Eingearbeitet ist ein Geflecht aus elastischen Bändern, die die Streck- und Beugemuskulatur des menschlichen Skeletts nachbilden. Auf diese Art und Weise sorgt der Anzug in der Schwerelosigkeit dafür, daß die Muskeln der Kosmonauten künstlich belastet werden, sobald sie sich bewegen. Auf der Erde wird der Anzug – in leicht veränderter Form – inzwischen in über 50 Kliniken zur Behandlung von Personen mit Parkinson-Syndrom oder Kinderlähmung eingesetzt. Durch die Belastung des Bewegungsapparates können die motorischen Störungen soweit gemindert werden, daß die Patienten nicht mehr an den Rollstuhl gefesselt sind.

In der Weltraumforschung ist dem schöpferischen menschlichen Denken keine Grenze gesetzt. Im Gegenteil, je mehr Vorstellungskraft für die Gestaltung der kosmischen Zukunft der Menschheit aufgewendet wird, desto mehr werden wir auch auf der Erde von der Entdeckung neuer universeller Prinzipien profitieren. Nur durch Fortschritt werden wir das Überleben der Menschheit sichern können.

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