Wie gefährlich ist Radioaktivität?

„Nichts macht den Menschen argwöhnischer, als wenig zu wissen“.

– Francis Bacon, englischer Philosoph und Staatsmann (1561–1626)

Wie gefährlich sind radioaktive Strahlen oder radioaktiv belastetes Material, etwa im Vergleich zu „normalen“ Giften? Erstaunlicherweise hat der Durchschnittsbürger überhaupt kein „Gefühl“ dafür. Alles Radioaktive wird pauschal als extrem gefährlich wahrgenommen, selbst bei winzigsten Dosen. Eigentlich müsste man annehmen, dass nach über 110 Jahren intensiver Forschung alle wichtigen Probleme geklärt sind. Sind sie auch, dank Hunderttausenden von wissenschaftlichen Arbeiten. Aber ein Grundübel der heutigen Risikokommunikation ist, dass man keine Vergleiche macht, etwa mit anderen Giftstoffen oder mit der natürlichen Radioaktivität. Ohne Vergleiche können wir Risiken nicht einordnen und Prioritäten setzen. In den nachfolgenden Abschnitten werden wir solche Vergleiche anstellen – und ziemlich staunen.


Euphorie und Phobie

Der dominierende Aspekt bei der Beurteilung der Kernkraft ist die Angst vor der radioaktiven Strahlung. Diese Angst entstand in den 1950er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, nach einer langen Periode mit positiver Einstellung zu solchen Strahlen. Natürlich war man sich schon damals den Gefahren sehr wohl bewußt: Um 1930, etwa 30 Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität, waren alle wesentlichen negativen Wirkungen von hohen Dosen ionisierender1 Strahlen bekannt: Akute Strahlenkrankheiten (forderten über 100 Todesopfer und mehrere 1000 Verletzten), Krebsinduktion, Mutationen und genetische Veränderungen. Mehrere tausend Zifferblattmalerinnen („Radium-Girls“) wurden in den 20er Jahren sehr hohen Dosen ausgesetzt. Mehrere hundert litten an akuter Strahlenkrankheit und -verletzungen (mehr als bei Tschernobyl!). Etwa 30 dieser Arbeiterinnen überlebten diese Akutphase nicht, zudem verstarben später über 100 an Knochenkrebs (Grund: Ingestion von Radium). Es gab viele fette Schlagzeilen und aufsehenerregende Prozesse, immerhin wurden die Arbeiterinnen relativ großzügig entschädigt.

Es kann also keine Rede davon sein, daß man früher (in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts) die Gefahren nicht kannte.

Aber beim damals vorherrschenden Fortschrittsglauben fokussierte man sich in der wissenschaftlichen Forschung und in den Medien auf den gesundheitlichen Nutzen dieser Strahlen. Es gab kaum eine Universität, welche nicht auf diesem Gebiete tätig war. Bei kleinen Dosen zeigten die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen überraschend oft positive Effekte wie Wachstumsförderung, Lebensverlängerung und Therapieerfolge bei vielen Krankheiten und Verletzungen. Die Folge war eine fast euphorische Einstellung zur Radioaktivität. Man streute radioaktiven Dünger auf die Felder, genoß radioaktiv angereicherte Lebensmittel (z. B. Brot, Bier, Schokolade), reinigte anschließend die Zähne mit radioaktiver Zahnpasta, kleidete sich in radioaktiver Unterwäsche (inkl. Säuglinge), benutzte radioaktive Kosmetika und Medikamente und badete im radioaktiven Wasser von Heilbädern.2

In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden Lebensmittel, Medikamente, Kosmetika und sogar Babywolle mit radioaktiven Substanzen angereichert.

Thermalquellen lösen, bedingt durch die hohe Temperatur des Wassers, besonders viele Mineralien aus dem Gestein. Uran kommt in jedem Boden vor, im Durchschnitt findet man etwa 5 Gramm pro Kubikmeter (neben etwa 60 anderen von Natur aus radioaktiven Substanzen). Die Folge: Alle Heilquellen sind mehr oder weniger mit radioaktiven Elementen angereichert. Die Kurorte stritten sich früher, wer das radioaktivste Wasser hat; Werte bis über 50.000 Bq/l3 waren (und sind immer noch) keine Seltenheit. Zum Vergleich: Der heutige Grenzwert für Cs-137 im Trinkwasser liegt in Japan bei 10 Bq/l. Radiotoxisch sind die im Heilwasser vorhandenen Radionuklide vergleichbar mit Cs-137. Schadet es der Gesundheit, wenn man solches radioaktiv „verseuchte“ Heilwasser trinkt oder darin badet? Eine jahrtausendealte Erfahrung, aber auch eine ganze Reihe von neueren wissenschaftlichen Studien belegen genau das Gegenteil.

Vor allem Schmerz- und Rheumapatienten werden in Bad Kreuznach mit teilweise großem Erfolg in einem Bergstollen behandelt, in den radioaktives Radon aus der Felsumgebung einströmt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kippte der Fortschrittsglaube in großen Teilen der westlichen Industriegesellschaft in eine Technikfeindlichkeit um. Entsprechend konzentrierte sich auch die Forschung auf die negativen Aspekte der Technik. Und für die Medien sind negative Nachrichten sowieso viel wertvoller als positive. Man kämpft heute gegen Gentechnik, große Industrieanlagen, Individualverkehr, Pestizide, Kunstdünger, industrielle Nahrungsmittel, Handystrahlung und vieles mehr. Unter anderem kam auch die positive Einstellung zur radioaktiven Strahlung zu einem Ende, vordergründig vor allem aufgrund von Befürchtungen über ein starkes Ansteigen von Erbschäden (die sich dann in den 60er Jahren als unbegründet erwiesen), aber auch aufgrund von Ängsten vor einem Nuklearkrieg. Heute herrscht eine zunehmende Phobie4 vor Strahlen aller Art. In den Medien und in gewissen politischen Kreisen werden selbst die allerwinzigsten Strahlendosen dämonisiert. Das Grundübel: Die Risiken werden nicht quantifiziert und mit anderen Risiken verglichen.

Wie wirken radioaktive Strahlen?

Radioaktive Strahlen haben nicht grundlegend andere gesundheitliche Folgen als „normale“ Giftstoffe. Hohe Einmaldosen (Schockdosen) bewirken akute Erkrankungen (Strahlenkrankheit), deren Symptome denjenigen einer starken Chemotherapie mit Zytostatika sehr ähnlich sind. Dies ist kein Zufall, denn in beiden Fällen werden vorwiegend die sich schnell teilenden Epithelzellen5 und die Blutstammzellen im Knochenmarkt angegriffen. Bei einer hohen, aber nicht tödlichen Schockdosis folgt nach der Erholung von der akuten Phase (typisch einige Wochen) praktisch immer eine jahrzehntelange, völlig normale Lebensphase. Die wichtigste Ausnahme: In seltenen Fällen kann innert wenigen Jahren eine Leukämie oder ein Schilddrüsenkrebs ausbrechen. Aber selbst bei einer Dosis knapp unter der tödlichen sind weniger als 3 % der Bestrahlten davon betroffen. Glück im Unglück: Im Gegensatz zu den „Alterskrebsen“ können diese Krebsarten in der Mehrzahl der Fälle geheilt werden. Sehr hohe Strahlendosen können auch die Wahrscheinlichkeit für Linsentrübungen (Katarakte, grauer Star) erhöhen und bei sehr hohen Hautdosen zu üblen Narbenbildungen führen. Dafür scheinen hohe Strahlendosen die Wahrscheinlichkeit von grünem Star (Glaukom) zu reduzieren.

Leider gibt es auch Langzeitwirkungen: Im Alter kann eine Krebserkrankung etwas früher ausbrechen als bei Unbestrahlten. Auch in dieser Beziehung unterscheiden sich die radioaktiven Strahlen nicht von den vielen anderen krebserregenden (genauer gesagt: krebsfördernden) Giften, wie z. B. Tabakrauch, Feinstaub oder Arsen. Diese Langzeitwirkungen kann man als Krebswahrscheinlichkeit (oder Anzahl Krebs­tote) quantifizieren. Genau genommen, beschreibt dies die Wahrscheinlichkeit, daß auf dem Totenschein „Krebs“ als Ursache steht. Da eine allfällige Erkrankung erst nach Jahrzehnten auftritt, ist es aussagekräftiger, die Anzahl verlorener Lebensjahre anzugeben.

Die biologisch wirksame Dosis mißt man heute in Sievert (Sv)6, 4–5 Sv auf einmal sind in der Hälfte der Fälle tödlich. Verteilt man hingegen diese Dosis über viele Jahre, wirkt sie kaum gesundheitsschädlich. Dies zeigt sich eindrücklich bei den Bewohnern von Gebieten mit sehr hoher natürlicher Radioaktivität und bei vielen Tierversuchen. Bei Schockdosen (Einmaldosen) zeigen sich ab etwa 0,1 Sv (100 mSv) erste Langzeiteffekte (leicht erhöhte Krebsrate im Alter). Man beobachtete bei den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki bei einer Bestrahlung von 1 Sv etwa 10 % mehr Krebstodesfälle im Alter bzw. eine mittlere Verkürzung der Lebensspanne um etwa 1,4 Jahre. Pro Sv verteilter Dosis geht man, etwas willkürlich, von etwa 8 Monaten Lebensdauerreduktion aus, allerdings ist dieser Wert sehr umstritten. Tatsache ist, daß selbst bei 5 Sv (einer tödlichen Einmal-Dosis), verteilt über das ganze Leben, keine negativen gesundheitlichen Folgen beobachtet werden können (Bewohner von Ramsar, der bekannteste und beliebteste Kurort des Iran, und unzählige Tierversuche).

Eine Erhöhung der natürlichen Mißgeburtenrate konnte beim Menschen, selbst bei sehr hohen Dosen (Atombombenopfer), nie beobachtet werden, wohl aber ein Anstieg der Aborte. Eine starke Bestrahlung des Fetus zwischen der 8. und der 15. Schwangerschaftswoche kann die spätere geistige Entwicklung beeinträchtigen.

Alle diese Fakten, und insbesondere die Tatsache, daß unter 100 mSv keine negativen Effekte mehr sichtbar sind, werden von den wissenschaftlichen Gremien, wie z.B. der UNO-Organisation UNSCEAR, ausdrücklich anerkannt. Trotzdem wird heute die LNT-Hypothese (Linear, No Threshold) allgemein angewendet: Danach gibt es keine Schwelle, und die (nicht nachweisbaren) Wirkungen von Kleinstdosen werden linear aus hohen Dosen „errechnet“. Der „Schaden“ ist dabei streng proportional zur Dosis. Auch die winzigste Dosis könnte gemäß dieser Hypothese einen Krebsfall auslösen (mit einer winzigen Wahrscheinlichkeit).

Mit LNT ist die Regulierung (Grenzwerte) sehr einfach. Zudem wird argumentiert, daß man damit auf der sicheren Seite sei. Alle Gesundheits- und Strahlenschutzbehörden (inkl. WHO) vertreten LNT. In weiten Kreisen wird aber vergessen, daß LNT eine unbeweisbare Arbeitshypothese ist. Die Medien und die Öffentlichkeit sind der festen Meinung, es sei wissenschaftlich bewiesen, daß auch die allerkleinste Dosis schädlich ist. Vergessen wird dabei, daß der Durchschnittsmensch ordentlich radioaktiv ist (unser Körper hat eine Radioaktivität von etwa 8000 Bq, d. h. pro Sekunde finden 8000 Zerfälle statt), zusammen mit der Strahlung aus dem Boden und dem Weltraum werden wir in jeder Sekunde von mindestens 20.000 Strahlenteilchen natürlichen Ursprungs getroffen. Dies ist ein Durchschnittswert. Es gibt Gebiete mit hoher natürlicher Radioaktivität, wo die Menschen lebenslang von mehr als einer Million Strahlenteilen getroffen werden, Sekunde für Sekunde, ohne klinisch meßbare Schäden. Ganz im Gegenteil: Die meisten dieser Gebiete haben einen gesundheitlich besonders guten Ruf (als Kurorte). Inzwischen sind die Mechanismen, welche zu gesundheitlich positiven Effekten von kleinen (natürlichen oder künstlichen) Strahlendosen führen, recht gut bekannt.

Bei der Bestimmung der Langzeitfolgen einer radioaktiven Bestrahlung kämpft man mit zwei großen Problemen:

  1. Die Symptome sind nicht spezifisch, d. h. alle der Strahlung zugeschriebenen Krankheiten (hauptsächlich verschiedene Krebsarten) kommen auch „natürlich“ vor, sie unterscheiden sich in keiner Weise von „normalen“ Krankheiten. Die Strahlung kann lediglich den Zeitpunkt des Eintretens vorverschieben bzw. die Eintrittshäufigkeit beeinflussen.
  2. Die „natürliche“ Krebsrate beträgt im Durchschnitt etwa 40 %, 25 % sterben daran. Diese Raten sind aber sehr großen örtlichen und zeitlichen Schwankungen unterworfen. Dadurch wird es äußerst schwierig, die Wirkung kleiner Strahlendosen zu studieren. Nur eines ist klar: Kleinstdosen haben, wenn überhaupt, nur eine äußerst kleine Wirkung.

Die Latenzzeiten betragen durchschnittlich mehrere Jahrzehnte; nach einer so langen Zeitspanne ist es äußerst schwierig, alle anderen Einflußgrößen genau zu berücksichtigen.

Diese beiden Probleme führen dazu, daß die meisten Studien über kleine Strahlendosen nicht eindeutige Resultate zeigen. Eine riesige Anzahl von Forschungsarbeiten wurden darüber veröffentlicht; durch eine geschickte Auswahl kann jede gewünschte Aussage „bewiesen“ werden: Kleinstdosen sind ab 0 mSv schädlich, Dosen um 100 mSv sind gesundheitsfördernd oder Dosen bis 1 Sv/J sind ohne gesundheitliche Folgen.

Betrachtet man die Gesamtheit der Arbeiten (siehe Abbildung 1), kann man doch einige Trends erkennen. So zeigen viele (aber nicht alle) molekularbiologischen Untersuchungen negative Effekte (Erzeugung von Schäden in Zellen, z. B. DNA-Defekte). Die statistischen Untersuchungen bei gewollten oder ungewollten Bestrahlungen von Menschen weisen die gesamte Bandbreite, von positiven zu negativen Effekten auf, mit einer gewissen Tendenz zu positiven Effekten (bei kleinen Dosen). Tierexperimente sind aussagekräftiger, man kann Tiere, z. B. Labormäuse, unter streng identischen Bedingungen halten und studieren. Hier zeigen sich oft positive Effekte von kleinen Strahlendosen (längeres Leben, weniger Krebs). Mittlerweile versteht man die Mechanismen, welche zu solchen positiven Effekten führen, recht gut.7 Viele namhafte Radiobiologen und Nuklearmediziner sind heute davon überzeugt, daß kleine Dosen eher nützen als schaden.

Abbildung 1. Die Resultate von Forschungsarbeiten der letzten 100 Jahre über kleine Dosen streuen um den Nulleffekt herum: Die meisten Arbeiten zeigen große statistische und methodische Unsicherheiten. Gewisse Trends lassen sich aber dennoch erkennen.

Radioaktive Strahlen kann man, wie viele andere Gifte auch, weder riechen noch fühlen. Einen „Vorteil“ haben sie aber: Man kann sie sehr leicht messen. Einfache Warngeräte gibt es bereits für unter 100$, ab ca. 200$ erhält man schon so empfindliche Geräte, daß man damit die natürliche Umweltstrahlung genau messen kann. Eine so einfache Überwachung ist bei den meisten anderen Giftstoffen unmöglich.

Grenzwerte

Es gibt keine chemische oder physikalische Einwirkung auf Lebewesen, die auch nur annähernd so gut erforscht wurde wie die radioaktiven Strahlen; in den letzten 110 Jahren wurden dafür Milliarden ausgegeben. Natürlich gibt es bei jeder Dosis oder Einwirkung, ob chemisch oder radioaktiv, eine untere Grenze, unter der die gesundheitlichen Auswirkungen unmeßbar klein werden. Diese liegt bei den radioaktiven Strahlen bei etwa 100 mSv auf einmal (Schockdosis) und bei gegen 1 Sv auf ein Jahr verteilt. Es ist vernünftig, zur Vorsicht Grenzwerte deutlich unterhalb dieser Schwelle anzusetzen. Bei den radioaktiven Strahlen aber übertreibt man heute eindeutig. Sowohl die Grenzwerte als auch die Evakuationswerte liegen weit unter der natürlichen Strahlenbelastung aus dem Boden. Die Umgebung von Fukushima wurde aufgrund solcher extrem tiefer Grenzwerte evakuiert. Selbst ohne jede Evakuation wären die gesundheitlichen Folgen unter der Nachweisgrenze.

Soll man sich überhaupt um hypothetische Risiken, die zu klein sind, um beobachtet zu werden, kümmern? Aufgrund der heutigen Null-Risiko-Mentalität lautet die klare Antwort: Ja. Diese Haltung mag auf den ersten Blick vernünftig erscheinen (Vorsorgeprinzip). Man sollte aber nicht überreagieren: Es macht keinen Sinn, Grenzwerte für ein einzelnes Risiko extrem viel tiefer zu setzen als für alle anderen Risiken. Wir setzen dann falsche Prioritäten, verschwenden sehr große Geldsummen (vor allem im Gesundheitswesen) und lenken von wichtigeren Risiken ab. Entgegen den Vorgaben im Schweizerischen Strahlenschutzgesetz (Art.18) werden die Grenzwerte für radioaktive Nuklide in Lebensmitteln um Größenordnungen strenger reguliert als andere krebserregende Stoffe, wie z. B. Arsen oder Feinstaub.

Bereits 1902, wenige Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, schlug man einen Toleranzwert (ca. 100 mSv/Tag) vor. 1924 wurden 700 mSv/Jahr empfohlen. Dieser Wert wurde bis 1950 sukzessive auf 150 mSv/J gekürzt. Aufgrund von Befürchtungen über starke genetische Wirkungen und der allgemeinen Angst vor einem Nuklearkrieg wurde schließlich die LNT-Hypothese eingeführt. Obwohl sich die Befürchtungen betreffend den genetischen Wirkungen (Mutationen) als unbegründet erwiesen, wurde der Grenzwert von der internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) bis 1991 auf 1 mSv/J abgesenkt. Der Schwerpunkt der Ängste verlagerte sich auf die Krebserkrankungen. Das Dilemma: Die Menschen werden durchschnittlich mit etwa 3 mSv/J aus natürlichen Quellen bestrahlt, mit Spitzen bis gegen 1 Sv/J, ohne sichtbare negative Folgen. In der Schweiz beträgt der Durchschnittswert etwa 4,5 mSv/J, mit Spitzen über 100 mSv/J (in den Alpen). Man kann sich fragen, was für einen Sinn ein Grenzwert von 1 mSv/J für künstliche Strahlen macht, wenn dieser durch die natürliche Strahlung weit überschritten wird. Die Fachleute sind sich einig, daß kein Unterschied zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Strahlen besteht, es sind genau die gleichen Strahlen (und teilweise sogar die gleichen Substanzen).

Noch fragwürdiger erscheinen die Evakuationsempfehlungen der internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) und anderer Gremien im Falle einer Nuklearkatastrophe. Wendet man diese auf die natürliche Strahlung an, so müßte man allein in Europa Millionen von Menschen umgehend evakuieren, unter anderem auch die meisten Bewohner der Alpen.

Das wichtigste Radionuklid bei Nuklearkatastrophen ist in der Regel Cs-137, der entsprechende Grenzwert bei Lebensmitteln liegt, je nach Land, zwischen 1250 Bq/kg und 10 Bq Cs-137 (Japan). 10 Bq/kg ergibt eine winzige Strahlendosis von 0,14 μSv8, etwa 1–2 % der durchschnittlichen natürlichen Tagesdosis und 1/35.000.000 einer tödlichen Dosis bzw. etwa ein Millionstel der Dosis mit ersten negativen Effekten. Eine entsprechende Dosis bei Wein wäre 3,5 l/35.000.000 = 1/10 Millionstel Liter oder 0,1 mg. In einem Liter frischem Regenwasser findet man typisch 100–1000 Bq/l natürliche radioaktive Substanzen, die aus der Atmosphäre ausgewaschen werden, Spitzenwerte von über 100.000 Bq/l wurden gemessen (entspricht radiotoxisch etwa 50.000 Bq Cs-137/l). Was ist der Sinn von Grenzwerten, die von der natürlichen Strahlung ständig bei weitem überschritten werden, ohne daß gesundheitliche Schäden zu beobachten sind?

Regulierung ab 10 μSv pro Jahr

Die Strahlungseuphorie der 30er Jahre ist mittlerweile ins Gegenteil umgeschlagen; heute herrscht eine irrationale Angst, eine eigentliche Phobie, selbst vor winzig kleinen Dosen. Dies führte zu einer schwer zu begreifenden Überregulierung: Aufgrund der Empfehlungen der internationalen Fachverbände (ICRP) wird in den meisten Ländern, unabhängig vom Grenzwert von 1 mSv/J und von der natürlichen Dosis von einigen mSv/J, jede zusätzliche „vermeidbare“ Jahresdosis ab 10 μSv gesetzlich streng reguliert (unter Strafandrohung). Mit bis zu drei Jahren Gefängnis wird bestraft, wer eine offensichtlich unnötige Bestrahlung verursacht (Art. 43, Schweizer Strahlenschutzgesetz). Die „verbotene“ Jahresdosis von 10 μSv wird in etwa einem Tag von der durchschnittlichen natürlichen Dosis erreicht, oder bei einem 2–3 stündigen Flug. Einige Tage Skiferien in den Alpen führen zu einer Zusatzdosis, die ein Mehrfaches von 10 μSv beträgt. Ein Vergleich mit einem Alltagsrisiko: Eine Jahresdosis von 10 μSv entspricht risikomäßig etwa 50 Schritten pro Tag (tödliches Sturzrisiko). Diese extrem tiefen Regulierungswerte haben auch zur Folge, daß z.B. eine Zahnarztpraxis (und die betreffende Kontrollbehörde) einen großen administrativen Aufwand betreiben muß (persönliche Dosimetrie aller Mitarbeiter), ganz abgesehen von den teuren baulichen Maßnahmen (mit Blei abgeschirmte Röntgenkammern). Die Kosten tragen die Patienten.

Risikokommunikation

Um das Risiko einer Strahlen- oder Giftdosis abzuschätzen, kann man diese mit der tödlichen Dosis vergleichen. Noch wichtiger wäre aber die Kenntnis des NOAEL (no observed adverse effect level). Dies ist die Gift- oder Strahlendosis, bei welcher man, nach bestem Wissen und Gewissen, keine negativen Effekte auf die Gesundheit mehr feststellen kann. Von diesem Schwellenwert ausgehend, kann man bei der Festlegung von Grenzwerten einen Sicherheitsfaktor einführen (z. B. 10 oder 100, aber nicht Millionen). Diesen Sicherheitsfaktor sollte man offen kommunizieren. Der Sicherheitsfaktor soll die unterschiedlichen Empfindlichkeiten (z. B. Kinder, Schwangere, Kranke) und sonstige Unsicherheiten berücksichtigen. Das resultierende Risiko sollte nicht extrem viel tiefer sein als die üblichen, alltäglichen Risiken, insbesondere auch nicht wesentlich tiefer liegen als die maximalen natürlichen Expositionen ohne meßbare negative Folgen. Aussagen wie: „Der Grenzwert wurde um das Tausendfache überschritten“, sind ohne gleichzeitige Angabe des Schwellenwertes/NOAEL und des benutzten Sicherheitsfaktors sinnlos. Man suggeriert beim Überschreiten des Grenzwertes oder des Toleranzwertes einen gesundheitlichen Schaden, obwohl man im Falle der radioaktiven Strahlen noch weit davon entfernt sein kann. Genau diesen Kommunikationsfehler machen praktisch alle Behörden, aber auch die meisten Medien.

Zu einer guten Risikokommunikation gehören auch Vergleiche mit anderen Risiken. Die nachfolgende Aufstellung zeigt einige Beispiele von Langzeitrisiken. Angegeben ist der Einfluß auf die Lebensdauer (vor allem durch Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen) von einigen Faktoren. Ein positives Vorzeichen bedeutet eine Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer. Die ersten vier Beispiele basieren auf der Extrapolation (LNT) von hohen Dosen oder Werten, zum Teil handelt es sich nur um grobe Schätzungen. In Klammern ist die Strahlendosis mit der gleichen gesundheitlichen Langzeitwirkung (Lebensdauerverkürzung) aufgeführt.

Eine Zigarette rauchen:

–10 min (= 30 μSv)

1 mSv (Grenzwert pro Jahr):

–6 Std. (= 40 Zig.)

Ein Apfel essen:

+30 min (= 0,1 mSv)

Eine Stunde Sport:

+5 Stunden (= 1 mSv)

Sozioökonomischer Status (max/min):

–10 Jahre (> 10 Sv)

10 % Reduktion des BIP (Wirtschaftskrise):

–1 Jahr (= 1,4 Sv)

Feinstaub, 40 μg/m3 PM10, dauernd:

–1 Jahr (= 1,4 Sv)

Der Lebensstandard (sozioökonomischer Status) hat einen sehr starken Einfluß auf die Gesundheit. Die unterste soziale Schicht muß mit etwa 10 Jahren weniger Lebenserwartung rechnen verglichen mit der obersten. Sinkt der Lebensstandard (z. B. aufgrund einer lange andauernden schweren Wirtschaftskrise), so ist dies ebenso gefährlich wie eine sehr starke Bestrahlung. In beiden Fällen nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung ab, vor allem aufgrund von Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Krankheiten.

Feinstaub ist der von der Öffentlichkeit am meisten unterschätzte Umwelteinfluß. Die aufgeführten 40 μg/m3
werden im Zentrum von verkehrsreichen Städten oft überschritten. Der Grenzwert liegt, je nach Land, meistens zwischen 20 μg/m3 und 40 μg/m3, der NOAEL (Schwellendosis) liegt eher bei 10 μg/m3. In Mitteleuropa muß man mit Durchschnittswerten von 20 μg/m3 Feinstaub rechnen, längs den Verkehrsachsen und in den Städten sind es aber deutlich mehr: Selbst im „sauberen“ Zürich werden 94 % der Bevölkerung einer Schadstoffdosis von über 20 μg/m3 ausgesetzt.9 Diese Verschmutzungen haben eine Verkürzung der Lebensdauer um etwa 7 Monate zur Folge, bzw. verursachen etwa 3000–4000 Todesfälle pro Jahr (in der Schweiz, gemäß Angaben des Bundesamtes für Umweltschutz). Eine Radioaktivitäts-Dosis von etwa 1 Sv hätte ähnliche gesundheitliche Auswirkungen(!).

In der Evakuationszone von Fukushima wird eine Dosis von 1 Sv nur an einigen wenigen „Hot-Spots“ erreicht (bei lebenslangem Aufenthalt). Der Mittelwert bei einem Daueraufenthalt in der Kernzone (No-Entry-Zone) beträgt 300–400 mSv, evakuiert wurde ab etwa 50 mSv. Die überraschende Schlußfolgerung: Die Luftbelastung in den Industrieländern und ganz besonders in den Städten ist ein deutlich größeres Gesundheitsrisiko als die Verstrahlung in der Evakuationszone von Fukushima.

Abbildung 2. Die natürliche Strahlung in den Alpen ist vergleichbar mit derjenigen in der Evakuationszone von Fukushima (Lebensdosis ca. 300–400 mSv). Quelle: Radiation doses of Swiss population from external sources. L. Rybach, D.Bachler, B.Bucher, G. Schwarz (Institut für Geophysik ETH), Journal of Environmental Radioactivity 62 (2002), S. 277–286

Abbildung 2 zeigt die natürliche Strahlung im Alpengebiet. Die unterschiedlichen Intensitäten hängen vor allem vom Urangehalt des Bodens ab. Mit Erstaunen stellt man fest, daß die Lebensdosen in den Alpen etwa gleich groß sind wie die Lebensdosen im Evakuationsgebiet von Fukushima. Ganz offensichtlich liegen die Evakuationslimiten bei einer radioaktiven Verseuchung extrem tief (weit unter dem NOAEL), ganz im Sinne der LNT-Hypothese und des sogenannten Vorsorgeprinzips10. Man versucht auch kleinste, rein hypothetische Risiken zu eliminieren und vergißt dabei, daß auch große Teile der Alpen von Natur aus radioaktiv „verseucht“ sind. Eigentlich müßte man sie sofort evakuieren und als „No-Entry-Zone“ absperren. Und etwas anderes zeigt sich auch: Siedeln die Bewohner der Fukushima-Evakuationszone nach Tokio um, kommen sie vom Regen in die Traufe: Die Luftverschmutzung in solchen Großstädten ist gesundheitsmäßig wesentlich schlimmer als die Strahlung in der Evakuationszone von Fukushima. Auf diesen frappierenden Umstand wurde schon 2007 von Prof. Jim Smith, einem der profiliertesten Umweltforscher, in einer wissenschaftlichen Arbeit hingewiesen11. In Tokio sterben jährlich über 13.000 Menschen als Folge der schlechten Luftqualität.12

Hoffnung für die Zukunft

Wird sich die extreme Angst vor der Radioaktivität irgendwann legen? Es braucht wohl noch 1–2 Generationen. Aber wenn Krebserkrankungen in Zukunft weitgehend geheilt werden können, entfällt der Hauptgrund für die Ängste. Diese sind sehr ungleich über den Globus verteilt. Das Zentrum befindet sich in Deutschland und in einigen umliegenden Ländern, hier hat die Kernkraft deshalb keine große Zukunft. Aber im Norden13 und im Osten Europas wird sie ausgebaut, ganz zu schweigen von Asien (China plant für 2030 130 Kernkraftwerke). Die Kosten werden, dank Serienproduktion in Asien, drastisch fallen. Die starke Verbreitung der Kernkraft wird die Angst davor mit der Zeit reduzieren.

In der Öffentlichkeit ist jedes radioaktive Atom eines zu viel – nicht ganz einfach bei der Tatsache, daß unser Körper Trillionen davon beherbergt. Leider werden numerische Risikoabschätzungen oder Vergleiche mit anderen Giftstoffen vermieden. Die Diskussionen werden vorwiegend auf der emotionalen Ebene statt auf der sachlichen geführt. Zugegeben, alle numerischen Abschätzungen bei kleinen und kleinsten Dosen sind mit gewissen Unsicherheiten behaftet. Aber selbst wenn die Risiken 10mal größer wären, die Schlußfolgerung bleibt die gleiche: Die Gefahren werden maßlos übertrieben, die Grenzwerte unverhältnismäßig tief angesetzt.

Fußnote(n)

  1. Ionisierende Strahlen führen zu starken Veränderungen („Ionisationen“) von Atomen und Molekülen, Biomoleküle können beschädigt werden und nicht mehr funktionieren. Zu den ionisierenden Strahlen zählen neben den radioaktiven Strahlen (aus Kernzerfällen) auch die Röntgenstrahlen.[]
  2. Hier findet man eine schöne Auswahl: http://www.dissident-media.org/infonucleaire/radieux.html[]
  3. Bq (Becquerel) ist ein Maß für die Radioaktivität (Anzahl Zerfälle pro Sekunde).[]
  4. Krankhafte, irrationale Angst.[]
  5. Epithelzellen bedecken alle inneren und äußeren Körperoberflächen, Beispiele: Hautzellen, Darmzellen.[]
  6. Das Sievert (Sv) ist die von einer Strahlung in einem kg Gewebe abgegebene Energie; zusätzlich findet eine Korrektur statt, welche die Strahlenart und die Empfindlichkeit des Gewebes oder Organs berücksichtigt. Bei Ingestion oder Inhalation wird die „Aufenthaltsdauer“ der inkorporierten radioaktiven Substanzen ebenso berücksichtigt wie die Verteilung im Körper.[]
  7. Eine gute wissenschaftliche Zusammenfassung findet man hier: http://www.energie-fakten.de/pdf/hormesis.pdf[]
  8. 1 μSv (Mikrosievert) ist ein Millionstel eines Sieverts[]
  9. NZZ vom 18.10.2013[]
  10. Dieses Prinzip zielt darauf ab, auch bei nur vermuteten Risiken (z.B. aufgrund der LNT-Hypothese) vorsorgliche Maßnahmen zu erlassen. Dies kann dazu führen, daß auch extrem kleine Risiken reguliert werden, ungeachtet der damit verbundenen Nachteile (z.B. Vernachlässigung anderer, viel größerer Risiken).[]
  11. http://www.biomedcentral.com/1471-2458/7/49. Jim T. Smith. Are passive smoking, air pollution and obesity a greater mortality risk than major radiation incidents? BMC Public Health 2007, 7:49, 3 April 2007[]
  12. Ein ausgezeichneter wissenschaftlicher Artikel: Model calculated global, regional and megacity premature mortality due to air pollution. J. Lelieveld et al.[]
  13. Der rot-grüne Schwedische Reichstag hat am 14. Juni 2016 die Bewilligung zum Bau von bis zu 10 neuen Kernkraftwerken erteilt.[]