Reise ins Innere von Tschernobyl

In der Sperrzone von Tschernobyl ist die Strahlung fast überall weniger hoch als in den Alpen oder in Rom. Trotzdem gibt es tödliche Gefahren, wie eine Studienreise zeigte.


Immer wieder werde ich gefragt, ob eine Reise nach Tschernobyl nicht gefährlich sei. Natürlich gibt es Gefahren. Ich wurde jedenfalls einer Dosis ausgesetzt, welche etwa der halben Tödlichen entsprach, ein Kollege kam sogar recht nahe an die Tödliche heran. Doch der Reihe nach.

Vom 6. bis 12. September 2015 konnte ich als Mitglied einer informellen 12köpfigen amerikanischen Expertengruppe Tschernobyl und Umgebung besuchen. Die Gruppe war sehr heterogen zusammengesetzt, mehrere Universitätsforscher, aber auch Strahlenschutzfachleute, Katastrophenexperten, eine Reaktoroperateurin – und ich als „Privatgelehrter“. Organisiert wurde die Exkursion vom Strahlenschutzbeauftragten einer amerikanischen Universität und einem Feuerwehr-Strahlenexperten.

Wir logierten während des ganzen Aufenthaltes im einzigen „richtigen“ Hotel von Slavutych mit überraschend gutem westlichen Komfort. Diese Stadt wurde nach der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 in aller Eile als „Ersatzstadt“ für die evakuierte Stadt Pripyat gebaut. Jede Sowjetrepublik mußte ein Quartier bauen, entsprechend bunt ist ihr Erscheinungsbild.

Die meisten der heute im Kraftwerk Tschernobyl Beschäftigten wohnen in Slavutych und pendeln täglich zum 45 km entfernten Kraftwerk. Auch wir benutzten jeden Morgen einen dieser Züge (Abbildung 1). Die Fahrt führt über menschenleere Waldgebiete, ein Teil der Strecke liegt in Weißrußland. Eine nennenswerte Strahlung mißt man erst in der Nähe des Kraftwerkes. Noch im Zuge wurden wir mündlich und schriftlich darüber informiert, was man in der „Exclusion Zone“ machen darf und was nicht. Durch Unterschrift mußte man bestätigen, daß man alles verinnerlicht hatte. Viele dieser Vorschriften sind heute übertrieben (z.B. darf in der ganzen Zone nichts berührt werden), werden aber andererseits auch nicht mehr ganz ernst genommen.

Abbildung 1. Einfahrt des Pendelzugs Slavutych-Tschernobyl. Quelle: Dr. Walter Rüegg

Die Katastrophe

Vor dem Besuch der Kraftwerksblöcke standen eine Reihe von Vorträgen (z.T. bereits in Slavutych) auf dem Programm. Besonders interessant: Ein ehemaliger Reaktoroperateur von Block 3 erläuterte den genauen Ablauf der Explosion im Unglücksblock 4, die nachfolgenden Abbildungen stammen aus seinem Vortrag (Aufnahmen bewilligt).

Das Drama begann bereits in der Vorbereitungsphase für einen Sicherheitstest. Ein Absenken der Leistung auf 25 % war vorgesehen, durch eine Fehlmanipulation oder durch einen Elektronikdefekt sackte sie jedoch auf 1 % ab. In jeder Vorlesung über Reaktorphysik lernt man, daß dann eine schwere „Xenonvergiftung“ einsetzt, der Reaktor muß für etwa zwei Tage ganz abgeschaltet werden (das Xenon baut sich dann ab). Das Problem: Das Xenon wirkt wie eine Vollbremsung, ein stabiler Betrieb ist nicht mehr möglich. Aber den Test wollte man unbedingt durchführen, also gab man Vollgas: Praktisch alle Steuerstäbe wurden bis zum Anschlag ausgefahren. Die Leistung stieg trotzdem nur auf kümmerliche 7 %. Als der eigentliche Test eingeleitet wurde (Abschaltung der Turbine), stieg die Leistung aus physikalischen Gründen (Dampfblasen entstanden) plötzlich an, die Notabschaltung wurde manuell eingeleitet. Aber es war schon zu spät.

Abbildung 2. Die kritische Phase nach Beginn der Notabschaltung, wenige Sekunden vor der Explosion. Im unteren Teil des Bildes (violette Linien) ist die vertikale Verteilung des Neutronenflusses (und damit die Leistung) für drei Steuerstabstellungen abgebildet.

Eigentlich unglaublich: Diese Reaktoren verfügten über keine Schnellabschaltung, die ganz ausgefahrenen Steuerstäbe („Vollgasstellung“) benötigen 15–20 Sekunden, bis sie völlig eingefahren waren („Vollbremsung“). Schlimmer noch: Um beim Normalbetrieb die Leistung zu maximieren, bestanden die Spitzen der Steuerstäbe aus Graphit (gelbe Teile in Abbildung 2). Dieses Graphit erhöhte in den ersten paar Sekunden des Einfahrens den Neutronenfluß (und damit die Leistung) im unteren Teil des Reaktors. Der Zustand des instabilen Reaktors kippte plötzlich auf Vollgas. Die Leistung stieg lawinenartig an, innerhalb von 4 Sekunden auf den 100fachen Nominalwert. Der untere Teil des Reaktorkerns erhitzte sich auf über 3000 °C, das Kühlwasser verdampfte explosionsartig. Der entstehende Dampfdruck war so gewaltig daß er den gesamten Reaktorkern (mit Abschirmungsdeckel total um die 3000 t) wie eine Rakete etwa 40 m hoch in die Luft steigen ließ. Der Reaktor drehte sich dabei um fast 180°. Dann erfolgte eine zweite, noch stärkere Explosion, verursacht durch das entstehende Knallgas. Der untere Teil des Reaktors wurde in Stücke gerissen und in die Umgebung geschleudert. Der ganze Ablauf ist in Abbildung 3 dargestellt. Der „Flug“ des Reaktors dauerte 4–5 Sekunden.

Abbildung 3. Ablauf der Zerstörung des Reaktors. Beschriftungen und Pfeile vom Autor eingefügt.

Der obere Reaktorteil mit dem schweren Betondeckel fiel in den Reaktorschacht zurück (siehe Abbildung 4). Man sieht in dieser Abbildung die vielen Brennstoffrohre aus dem Reaktordeckel herausragen. Der Brennstoff in diesem oberen Reaktorteil dürfte sich noch teilweise in diesen Rohren befinden. Die meisten sowjetischen Reaktoren dieser Zeit bestanden aus Bündeln von einzelnen Brennelementrohren, direkt abgeleitet von den ersten militärischen Typen. Trotz der bekannten Instabilitäten dieses Reaktortyps wurde sowohl eine Schnellabschaltung als auch ein Containment als überflüssig angesehen.

Abbildung 4. Oberes Ende des zerstörten Reaktors von Block 4. Die rötliche Farbe stammt von der Beleuchtung.

Wer ist schuld?

Auf die Frage an den Reaktoroperateur, ob seine Kollegen vom Katastrophenblock 4 Fehler gemacht haben, lautete die spontane Antwort: Nein. Etwas einschränkend fügte er hinzu, daß zumindest keine Betriebsvorschriften verletzt worden seien((Rätselhafterweise sind die spezifischen Betriebsvorschriften für diesen Reaktor „verschwunden“. Ohne Zweifel sind die allgemeinen Vorschriften für diesen Reaktortyp massiv verletzt worden (z. B. minimale Anzahl Steuerstäbe im Reaktor), unklar ist aber der Instruktionsgrad der Mannschaft.)). Diese Reaktion ist typisch: Die Ukrainer schieben alles auf die „Konstruktionsfehler“ des russischen Reaktors ab. Für die Russen hingegen ist die ignorante ukrainische Mannschaft an allem schuld. Wer hat recht? Beide: Nur das Zusammentreffen von einer nicht instruierten Mannschaft mit einem „heiklen“ Reaktortyp ohne Schnellabschaltung konnte zu einer solchen Katastrophe führen.

Eines ist klar: Der Reaktor hatte keine „Konstruktionsfehler“. Bei den Reaktoren der 60er und 70er Jahre wurde die Leistung optimiert, die Sicherheit war kein zentrales Thema (wie auch bei den Fukushima-Reaktoren, ebenfalls ein Produkt dieser Zeit). Die russischen Konstrukteure waren sich der Schwächen des Designs sehr wohl bewußt, die Betriebsvorschriften haben dies entsprechend berücksichtigt. Dies funktioniert aber nur bei einer guten Sicherheitskultur, und diese fehlte vollkommen: Im Kraftwerk Leningrad 1 kam es 1974, dem erstes Betriebsjahr mit einem „Tschernobyl-Typ“, zu verschiedenen ernsthaften Problemen: Unter anderem erfolgte eine partielle Kernschmelze mit teilweiser Zerstörung des Reaktorkerns. Drei Mitarbeiter starben. Und 1982 trat im Block 2 von Tschernobyl ebenfalls eine Kernschmelze auf. In beiden Fällen wurden beträchtliche Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt (kein Containment!). Lehren daraus wurden kaum gezogen, im Gegenteil, alles wurde streng geheim gehalten.

Das Kraftwerk

Im Kraftwerk selber besuchten wir die verschiedenen Blöcke. Die unbeschädigten Reaktoren der Blöcke 1, 2 und 3 wurden nach dem Unglück weiterbetrieben, aber umgehend mit vielen zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen aufgerüstet (für etwa 400 Mio. $). Unter anderem wurde eine „richtige“ Schnellabschaltung eingebaut (kann den Reaktor in 1-2 Sekunden stoppen), zudem verunmöglichen verschiedene Umbauten eine explosive Leistungsexkursion. Ein neues „Tschernobyl“ mit einem massiven Austritt von radioaktiven Substanzen kann aus physikalischen Gründen ausgeschlossen werden (eine „normale“ Kernschmelze aber nicht). Trotzdem: Sehr zum Ärger der Ukrainer mußten sie auf Druck der Europäer die Reaktoren der Blöcke 1, 2 und 3 abschalten (den letzten im Jahre 2000). In Rußland sind immer noch 10 dieser (aufgerüsteten) „Tschernobyl“-Reaktoren in Betrieb (Stand 2015), ernsthafte Probleme gab es nie mehr. Für die Ukrainer war die Stilllegung ein ökonomisches Problem: Jeder Block hätte pro Jahr für etwa eine halbe Mrd. Dollar Strom produziert. Ein gewisser Ausgleich erfolgte durch die finanzielle Unterstützung (insbesondere Sicherheitsaufrüstungen) bei anderen Kraftwerken. Die Ukraine verfügt heute über insgesamt 15 Reaktoren russischer Bauart, damit wird rund 50 % des elektrischen Stroms erzeugt. Diese zwischen 1981 und 2006 in Betrieb genommenen Druckwasserreaktoren gehören einer neueren Generation an, sie besitzen ein Containment und sind mittlerweile sicherheitstechnisch auf einem westlichen Niveau.

Im Inneren von Block 4

Eine „Exkursion“ ins Innere des Sarkophags, z. B. in den Kontrollraum 4, sei lebensgefährlich, wurde uns am ersten Besuchstag erklärt, und deshalb völlig unmöglich und streng verboten. Aber wir waren, wie bereits erwähnt, offenbar keine „normale“ Besuchergruppe. Geholfen hat wohl auch, daß zwei Mitglieder unserer Gruppe fließend Russisch/Ukrainisch sprachen und sich mit den lokalen Sitten und Gebräuchen auskannten. Aber so genau will ich es gar nicht wissen, jedenfalls kamen wir in Block 4 hinein und konnten den Kontrollraum gründlich besichtigen und ausmessen. In die völlig zerstörte Reaktorhalle oder in die Räume direkt unter dem Reaktor (Strahlung bis mehrere Sv/h) konnten wir nicht gehen, dort ist es bei längerem Aufenthalt (mehr als etwa eine halbe Stunde) tatsächlich lebensgefährlich. Abgesehen davon sind die Trümmer instabil.

In den zugänglichen Gängen um den Block 4 herum maßen wir Strahlenintensitäten von typisch 10 μSv/h, mit Spitzen bis etwa 200 μSv/h. Der Hauptteil der Strahlung wird heute von Cs-137 erzeugt. Während der Katastrophe herrschten hier Intensitäten von bis zu einigen 10 Sv/h, tödlich innerhalb von 5-30 Minuten. Am schlimmsten war die Strahlung in der Reaktorhalle, direkt neben dem zerstörten Reaktorkern: Innerhalb von etwa einer Minute tödlich. Mehrere Tage lang hatte man kaum Informationen über die Höhe der Strahlung, geeignete Strahlenmeßgeräte fehlten weitgehend. Zudem behaupteten die Verantwortlichen einen vollen Tag lang steif und fest, daß der Reaktor nicht zerstört sei. Die Folgen: Etwa 1000 Einsatzkräfte wurden sehr stark bestrahlt, über 130 wurden schwer strahlenkrank, 30 verloren ihr Leben.((Liste der am meisten Betroffenen mit individuellen Angaben hier))

Die Strahlung im Kontrollraum 4 beträgt heute etwa 5 μSv/h. Zum Vergleich: Während des Fluges Kiev-Zürich mass ich über 3 μSv/h, bei Flügen nach USA oder Asien kann sie bis gegen 10 μSv/h steigen. Während der Katastrophe betrug die Strahlung 20.000–50.000 μSv/h.

Der Kontrollraum 4 befindet sich rund 40 m von der zerstörten Reaktorhalle entfernt. Dicke Betonwände verhinderten eine direkte Einwirkung der Explosionen, konnten aber das Eindringen von radioaktiven Substanzen nicht verhindern (teils durch die Luft, teils von der Belegschaft hineingebracht). Die Strahlendosis erreichte sehr hohe, bei längerem Aufenthalt lebensbedrohende Werte (20.000–50.000 μSv/h). Anatoli Dyatlov, stellvertretender Chefingenieur des Kraftwerkes und Leiter des Versuches, erlitt eine nahezu tödliche Strahlendosis von 3,9 Sv (wenn man den Angaben trauen kann). Er starb 10 Jahre nach dem Unglück im Alter von 64 Jahren((Trotz der lebensbedrohend hohen Strahlendosis lebte er deutlich länger als Durchschnitt seiner Zeit (ca. 60 Jahre).)) an einem Herzinfarkt (nachdem er wegen seiner Fehlentscheidungen 5 Jahre im Gefängnis verbracht hatte).

Heute ist die Strahlung im Kontrollraum auf relativ harmlose 5 μSv/h abgeklungen. Der Raum ist in einem trostlosen Zustand, alles ist von einer dicken Staubschicht überzogen, praktisch alle Instrumente wurden ausgebaut. Offiziell dienten sie als Ersatzteile für die anderen Reaktoren, inoffiziell wurden sie als „Souvenirs“ mitgenommen, manchmal tauchen sie auf dem Schwarzmarkt wieder auf.

Das Dilemma

Die durchschnittliche Strahlung während meines gesamten Aufenthaltes in Pripyat betrug 1,0 μSv/h (Mittelwert aus sämtlichen Messungen, alle 10 sec. eine Messung). Dies entspricht einer Jahresdosis von 8,8 mSv. Allerdings bewegten wir uns zum größten Teil außerhalb der Gebäude, suchten bewußt nach „heißen“ Stellen und legten die Meßgeräte darüber. Ein heutiger Bewohner dürfte kaum über 5 mSv kommen, selbst wenn er sich vorwiegend im Freien aufhält. Dies entspricht etwa der natürlichen Durchschnittsdosis in der Schweiz und in vielen anderen Teilen der Welt. Eliminiert man alle Moosbeete, kann man mit etwa 3 mSv rechnen. Dazu kommt noch die innere Bestrahlung: Ernährt man sich zur Hauptsache von lokalen Lebensmitteln, könnten durchschnittlich noch etwa 1–2 mSv dazukommen. Es gibt viele Untersuchungen darüber (auch mit Ganzkörperzähler), meist rechnet man mit 10–20 % der totalen Dosis.

Die Grünen im Europäischen Parlament haben einen sehr kritischen Bericht über die Folgen von Tschernobyl herausgegeben („TORCH“-Bericht, 2006: The Other Report on Chernobyl). In diesem Bericht wird die innere Dosis der Bevölkerung in den Falloutgebieten auf etwa 30% der Externen geschätzt (vor allem durch Cs-137). Der gleiche Bericht anerkennt ausdrücklich, daß die natürliche Strahlung genau gleich wirkt wie die „künstliche“. Weiter wird vermerkt, daß keine erhöhte Anzahl Mißgeburten registriert wurde (wohl aber mehrere tausend Schilddrüsentumore bei Kindern, zum Glück praktisch immer gut heilbar).

Das große Dilemma: In Anbetracht einer Pripyat-Dosis von 5 mSv/Jahr müßte man konsequenterweise auch große Teile der europäischen Alpen zur Todeszone erklären. Die Dosen erreichen Werte dort bis über 30 mSv/Jahr (inklusive der inneren Bestrahlung). Dies verdanken die Alpenbewohner dem überdurchschnittlichen Gehalt von Uran oder Thorium im Gestein. Das gleiche gilt auch für Teile von Schwarzwald, Erzgebirge, Massif Central, Süditalien, Piemont, usw. Dieses Dilemma besteht auch im Falle von Fukushima (mit wesentlich weniger Fallout als bei Tschernobyl). Aufgrund des Vorsorgeprinzips und der heutigen Forderung nach Nullrisiko wurden die Grenzwerte immer weiter gesenkt, bis unter die natürliche Strahlung (die aber vom Grenzwert ausgenommen ist). Rein juristisch müssen die Alpen also nicht evakuiert werden und ich kann weiterhin Wandern und Skifahren gehen.

Um es nochmals klar zu sagen: Es besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, daß die natürliche Strahlung genau gleich wirkt wie die „künstliche“. Eine Unterscheidung macht physikalisch keinen Sinn.

Gefährlich?

Immer wieder werde ich gefragt, ob eine solche Reise nicht gefährlich sei. Natürlich gibt es Gefahren. Da wären einmal die vielen wilden Wölfe (Abbildung 5). Auch das Klettern im halb zerfallenen Block 5 (im Halbdunkeln, mit vielen tiefen Schächten) war nicht ohne Gefahr. Aber wirklich gefährlich war etwas anderes. Ich wurde jedenfalls einer Dosis ausgesetzt welche etwa der halben Tödlichen entsprach. Das kam so:

Abbildung 5. Die Umgebung des Kraftwerkes hat sich (fast) ohne Menschen in ein üppiges Naturparadies verwandelt. Allerdings sollte man sich vor Wölfen in acht nehmen, aber auch Wildschweine, Bären und Bisons sind nicht ganz harmlos.

Am letzten Tag organisierte unser lokaler Guide eine tolle Abschiedsparty in einer Datscha. Dabei war das Trinken von selbstgebranntem „Wodka“ (60 %!) obligatorisch. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas Grauenhafteres getrunken, Benzin dürfte besser schmecken. Mit Mühe, Not und List (es gelang mir manchmal, mein Wodkaglas heimlich mit Wasser zu füllen) kam ich mit 3–4 Gläsern davon, entspricht rund 100 g Alkohol, etwa 50 % der tödlichen Dosis. Die Nachwehen dauerten 2 Tage. Ein Kollege setzte sich unvorsichtigerweise direkt neben unseren Guide. Er konnte kaum kneifen und verpaßte die tödliche Dosis nur knapp. Noch ein Tag später war er kaum ansprechbar. Ein anderer Kollege (Ex-US-Navy) konnte erstaunlich gut mithalten. Aber unser Guide schlug alle, er dürfte an diesem Abend die doppelte tödliche Dosis getrunken haben, ohne sichtbare Wirkung. Ein medizinisches Wunder. Vermutlich wurde er als ehemaliger Rotarmist durch intensives Trinktraining gründlich immunisiert. Und ein häufiges Training ist in der Ukraine, selbst bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von nur etwa 150 $, noch finanzierbar: Der Wodka war für etwa 1 $ die Flasche zu kaufen, kaum teurer als die Milch im Laden. Die traurige Folge: Bis zu 200.000 alkoholbedingte Todesfälle pro Jahr.((Berechnet aus: http://voxukraine.org/2015/03/28/life-expectancy-in-ukraine-why-is-it-so-low/))

Nachtrag

Ich habe in meinem Bericht ganz bewußt nichts über die gesundheitlichen Langzeitfolgen der Katastrophe geschrieben. Denn damit verläßt man die exakte Wissenschaft.

Google Scholar registriert heute (2016) über 225.000 wissenschaftliche Arbeiten unter dem Stichwort „Chernobyl“. Man kann leicht eine Unmenge Arbeiten finden, die zum Schluß kommen, daß die Strahlung schädlich war oder immer noch ist. Ebenso leicht findet man eine Unmenge Arbeiten, die keine oder sogar positive Auswirkungen belegen. Die Qualität der Arbeiten schwankt zwischen unbrauchbar und hochwissenschaftlich. Und so kommt es, daß man sich darüber streitet, ob 50 oder viele Millionen Todesfälle auf das Konto der Strahlung gehen. Es gibt zwei Gründe für diese Situation:

  1. Parallel zum Niedergang der Sowjetunion in den 80er und 90er Jahren fand eine dramatische Abnahme der Lebenserwartung statt, von etwa 65 Jahre auf 57 (Männer). Dies ist gezwungenermaßen auf eine massive Verschlechterung des Gesundheitszustandes zurückzuführen. Krebs-, Herz-Kreislauf- und Infektionskrankheiten nahmen sehr stark zu, Millionen starben vorzeitig (in der gesamten ehemaligen Sowjetunion, auch im fernen Sibirien). Wenn die Menschen 20 Jahre früher sterben als bei uns, ist der allgemeine Gesundheitszustand vergleichsweise sehr schlecht, mit oder ohne Fallout.
  2. Sämtliche der Strahlung zugeschriebenen Langzeitfolgen kommen auch „natürlich“ vor. Es ist nicht möglich, bei einer Krankheit (z. B. Krebs) festzustellen, ob die Strahlung sie verursacht hat. Verschlechtert sich der Gesundheitszustand einer Bevölkerung (Punkt 1), kann man somit auch der Strahlung die Schuld geben.

Im Falle von Hiroshima/Nagasaki ist die Situation viel eindeutiger: Erstens war die Strahlenbelastung der betroffenen Bevölkerung sehr viel höher (bis zu 100mal), und zweitens wurden die Untersuchungen mit einem Milliardenaufwand äußerst professionell durchgeführt. Man streitet sich höchstens um einen Faktor 2.

Bei Tschernobyl ist man sich zumindest einig über die Folgen der sehr hohen Strahlendosen der ersten Tage und Wochen: Etwa 50 Todesopfer sind darauf zurückzuführen, sowie einige tausend Schilddrüsentumore bei Kindern. Ziemlich einig ist man sich auch über die Dosen, welche die umliegende Bevölkerung erhalten hat (diese lassen sich auch einfach messen). Diese Dosen liegen praktisch ausnahmslos weit unter der natürlichen Strahlung. Eigentlich würde man kaum strahlenbedingte Langzeitfolgen erwarten. Mit Hilfe von (umstrittenen und unbeweisbaren) Risikomodellen, welche annehmen daß auch die kleinste Dosis schädlich ist, können einige 1000 bis einige 10.000 vorzeitige Todesopfer errechnet werden. Eindeutig nachweisen wird man dies aber nie können. Eine außerordentliche Behauptung (kleine Strahlendosen sind stark gesundheitsschädlich) verlangt auch außerordentliche Beweise, insbesondere wenn die Behauptung dem bisherigen 115jährigen Wissen über die Wirkungen von kleinen Dosen widerspricht.

In den betroffenen Gebieten kann man das gesamte Spektrum von Ansichten hören: „Die Strahlung ist an allem Schuld“ oder „Die Strahlung ist völlig irrelevant“. Die erste Ansicht ist stärker verbreitet, ein möglicher Grund: Millionen haben den Status von „Strahlenopfern“ und bekommen deshalb finanzielle Zuwendungen und verschiedene Privilegien. Diese würden entfallen, falls man der Strahlung keine negativen Auswirkungen zuschreiben kann. Die wirtschaftliche Situation dieser Menschen ist katastrophal, sehr viele sind auf solche Zuwendungen angewiesen.

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