Energieexperte: „Deutsche Energiewende ist nicht finanzierbar“

Jürgen Schöttle, geboren 1942, ist Diplom-Ingenieur für Kraftwerkstechnik und war bei der AEG-Telefunken angestellt, dessen Kraftwerksparte später gesondert zur Kraftwerk Union AG ausgelagert wurde und derzeit durch die Siemens Energy AG vertreten wird. Schöttles Arbeit im Kraftwerkbau fiel in die Blütezeit der zivilen Kernkraftnutzung in Westeuropa. Heute setzt er sich vehement in der Öffentlichkeit für die Kernkraft als Energiequelle ein. FUSION konnte ihn für ein schriftliches Interview gewinnen.


Herr Schöttle, Sie haben als Diplom-Ingenieur für Kraftwerkstechnik die Konstruktion vieler deutscher Kernkraftwerke überwacht beziehungsweise begleitet. Sie sind längst im Ruhestand und sind doch weiterhin ein leidenschaftlicher Fürsprecher für das industrielle Potential Deutschlands. Was treibt Sie an?

Diese Frage stelle ich mir auch, insbesondere wenn mir meine Freunde und Bekannte häufig erklären, daß mein Handeln ohnehin nichts verändert. Doch die Hoffnung, etwas zum Besseren zu verändern, stirbt zuletzt.

Mir ist bewußt, daß Energie in der heutigen Zeit die Grundlage unseres modernen Lebens ist und die Energiegewinnung mit unserem Lebensraum vereinbar sein muß. Das gilt übrigens weltweit.

Jürgen Schöttle
Diplom-Ingenieur für Kraftwerkstechnik Jürgen Schöttle. Bild: Schöttle/privat

In meiner Berufszeit konnte ich mir über alle Arten der Energieerzeugung grundlegende Kenntnisse aneignen, was bei der heutigen Spezialisierung und Marktaufteilung in Erzeugung, Transport und Verteilung von Strom in dieser Vielfalt gar nicht mehr möglich ist. Damit bin ich mit meinen 82 Jahren einer der wenigen „Spezialisten“ über die technologische Entwicklung von modernen Energieerzeugungsanlagen.

Mit den umfangreichen Kenntnissen und Erfahrungen über die Planung, den Bau und den Betrieb von Kraftwerken bin ich der Ansicht, daß eine zukünftige Energieerzeugung nur in einem Mix aus sogenannten erneuerbaren Energien mit neuen Technologien Bestand haben wird. Der deutsche Weg mit der derzeitigen Energiewende ist volkswirtschaftlich nicht machbar, da nicht finanzierbar, und wir verlieren mit jedem Tag mehr den Anschluß an die dynamische Entwicklung neuer Technologien in anderen Ländern.

Was mich antreibt, ist die Zukunft von Deutschland und die Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen, meinen Kindern und meinen Enkeln.

Stichwort Entwicklung: Die Reaktorkonzepte der Kernkraft sind ja keineswegs stehengeblieben. Was unterscheidet die Kernreaktoren der zweiten Generation von der dritten Generation? Mittlerweile wird ja an der vierten Generation geforscht…

Die zweite Generation von Kernreaktoren waren die ersten kommerziellen Kernkraftwerke. Diese Anlagen wurden so gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahren gebaut und in Betrieb genommen. Das war die Technik der damaligen Kohlekraftwerke, wobei der Kohlekessel durch ein nukleares Dampferzeugungssystem ersetzt wunde. Fast alle Komponenten entsprachen der damaligen Industriequalität.

Die beim Bau und Betrieb gemachten Erfahrungen wurden dann in der westlichen Welt systematisch erfaßt, ausgewertet und bei der Auslegung, Konstruktion und Fertigung der Generation 3 berücksichtigt. Anlagen der Generation 2 wurden zum großen Teil auch mit diesen neuen Erkenntnissen nachgerüstet. Um dafür ein paar Stichworte zu nennen: Entwicklung neuer Reaktorwerkstoffe, Prüfmethoden, Anforderungen an den Brandschutz, Auswirkungen von Rohrleitungsversagen, Versagen von Einzelkomponenten, wie Rohrleitungen, Behälter, Armaturen, Pumpen, der Steuerung, Störfallbetrachtung bei Erdbeben, Hochwasser, Gaswolke, Flugzeugabsturz und Terrorismus.

Die Anlagen der dritten Generation bekamen massive, robuste Gebäudestrukturen, die Reaktor-Sicherheitssysteme wurden dreifach redundant und diversitär aufgebaut. Die Generation 3+, wie der EPR der AREVA, wurde zusätzlich mit einem „Core Catcher“ [Auffangsystem] ausgestattet, der beim Kernschmelzen ein Durchbrennen des Reaktorgebäudefundamentes verhindert. Die neuesten Reaktoranlagen der Generation 3+, wie der AP1000, Hualong One und der WWER-1000, haben passive Notkühlsysteme, die den Einsatz von Notstromanlagen bei Anlagenstörungen oder einem Netzausfall unnötig machen.

Der Core Catcher („Kernfänger“) des EPR ist entwickelt worden, um im Falle einer Kernschmelze des Reaktorkerns sowohl den Boden des Reaktorgebäudes zu schützen als auch die resultierende Hitze schnell abzuführen. Der Fänger besteht aus einem großen Auffangbecken unterhalb des Druckbehälters, einem Löschkanal und einem Verschluß am Tiefpunkt des Reaktorbehälters (a). Dazu wird im Notfall die Schmelzmasse durch den Kanal im Auffangbecken ausgelassen, das passiv gekühltund mit hitzebeständigen Kacheln bedeckt ist (b). Ebenso ist es möglich, umgekehrt über den Löschkanal den Druckbehälter selbst mit Kühlwasser extern zu fluten, um die weitere Hitzeentwicklung bei einem extremen Störfall zu unterbinden (c).
Der Core Catcher („Kernfänger“) des EPR ist entwickelt worden, um im Falle einer Kernschmelze des Reaktorkerns sowohl den Boden des Reaktorgebäudes zu schützen als auch die resultierende Hitze schnell abzuführen. Der Fänger besteht aus einem großen Auffangbecken unterhalb des Druckbehälters, einem Löschkanal und einem Verschluß am Tiefpunkt des Reaktorbehälters (a). Dazu wird im Notfall die Schmelzmasse durch den Kanal im Auffangbecken ausgelassen, das passiv gekühltund mit hitzebeständigen Kacheln bedeckt ist (b). Ebenso ist es möglich, umgekehrt über den Löschkanal den Druckbehälter selbst mit Kühlwasser extern zu fluten, um die weitere Hitzeentwicklung bei einem extremen Störfall zu unterbinden (c).

Reaktoranlagen der Generation 4 arbeiten mit drucklosen Reaktorkühlsystemen mittels Gasen, Salzen oder flüssigen Metallen, haben höhere Kühlmitteltemperaturen, der Kernbrennstoff ist fest oder auch flüssig. Durch die Reaktorgröße und die Bauart ist keine aktive Notkühlung notwendig. Der THTR zum Beispiel, der Kugelhaufenreaktor, eine deutsche Entwicklung, ist ein Generation-4-Reaktor und ist als 100-MW-Block bereits kommerziell im Betrieb; weiterhin gibt es einen 1 Megawatt starken „Dual-Fluid-Reaktor“ als Versuchsreaktor – beide stehen übrigens in China.

Reaktoren der Generation 4 sind wegen ihrer Sicherheit und hohen Prozeßtemperaturen auch im urbanen und industriellen Umfeld einsetzbar, und dadurch ist auch die Abwärme bei der Stromerzeugung bzw. für die Beheizung von Gebäuden nutzbar.

Die Nachzerfallsprodukte des verbrauchten Kernbrennstoffes erfordern eine Endlagerzeit von nur noch 300 Jahren. Weltweit befassen sich ungefähr 70 Start-Up-Unternehmen mit Reaktoren der Generation 4.

Sie kennen die Kernkraftwerke von Innen heraus. Wie stark hat sich die Unfallsicherheit der Reaktoren in den letzten 40 Jahren verändert?

Die ersten Reaktoren der Generation 2 hatten eine Sicherheit von 5 · 10-4, das heißt alle 5000 Betriebsjahre mußte statistisch mit einem schweren Störfall gerechnet werden. Durch die schon geschilderten Maßnahmen konnte diese Sicherheit kontinuierlich verbessert werden, so daß die heutigen Reaktoranlagen um den Faktor 1000 verbessert werden konnten.

Der AP 1000 der amerikanischen Firma Westinghouse wird mit einer Sicherheit gegen schwere Störfälle mit 2,41 · 10-7 angegeben, also alle 24 Millionen Betriebsjahre ein schwerer Störfall.

Längst geht es in der deutschen Energiepolitik nicht mehr um Energiewachstum, sondern höchstens um Ersatz vorhandener Energiequellen. Welche Zukunft hat ein Land, das energetisch nicht mehr wachsen will?

Für die Zukunft ist in Deutschland mit keinem Energiewachstum zu rechnen, eher mit dem Gegenteil, wobei aber von einem weltweiten, erheblichen Wachstum auszugehen ist.

Existentiell für Deutschland sind die Energieeffizienz und vor allen Dingen die Energiekosten. Mit einer kontinuierlich verbesserten Effizienz können wir auch wachsen, das bedingt aber Innovation in allen Bereichen. Deswegen sage ich bei meinen Vorträgen auch immer, Deutschland muß in Zukunft massiv in Bildung und Forschung investieren. Bei der Bildung liegen wir leider nicht mehr auf den vorderen Plätzen.

Was bedeutet die vollständige Ausschaltung aller deutschen Kernkraftwerke für Deutschland und Europa?

Kernenergie ist die die preiswerteste Art, Energie zu erzeugen. Die Stromerzeugungskosten von Kernkraftwerken liegen bei 4 bis 6 Cent pro Kilowattstunde, also um den Faktor 5 bis 10 niedriger als bei den „erneuerbaren Energien“. Bei den Strompreisen ist es dann der Faktor 2 bis 3. Dieser Umstand ist fatal bezüglich unseres Wohlstands und der weltweiten Konkurrenzfähigkeit.

Wir sind ein Land ohne wesentliche Rohstoffe, deswegen leben wir ganz entscheidend von der Innovation unserer Wissenschaft und Wirtschaft. Energieerzeugung ohne einen Mix mit neuen Technologien hat keine Zukunft. Wir haben in Deutschland schon vor ungefähr 35 Jahren aufgehört im nuklearen Bereich zu forschen, zu entwickeln und zu bauen – ein Riesenfehler. Als wirtschaftlich stärkstes EU-Land und mit unserer bisherigen Vorbildfunktion befürchte ich, daß wir auch den Rest der EU wirtschaftlich mit in die Tiefe ziehen.

Es ist schon verwunderlich, daß wir der übrigen Welt die Kernenergie überlassen und wir durch Ausbau von Solar- und Windanlagen enorme Material-Ressourcen in Anspruch nehmen und die Natur nachhaltig verunstalten.

Ist die sogenannte „Energiewende“ überhaupt technisch umsetzbar?

Die deutsche Energiewende ist nicht bezahlbar und wird an der Finanzierbarkeit scheitern. Der Material- und Metalleinsatz für Solar- und Windanlagen samt Batterien für die Frequenzstützung, Sekunden- und Minutenreserve sowie der Wasserstofferzeugung für die notwendigen Backup-Anlagen ist etwa fünf- bis zehnmal so hoch wie bei den Kernkraftwerken und wird die Rohstoffpreise für diese Materialien und Metall weiter massiv ansteigen lassen.

Der Erntefaktor EROI (Energy Returned on Energy Invested) liegt vergleichbar bei Solaranlagen bei 1,6, bei Windanlagen bei 4,6, bei den neuen Kernrektoren der Generation 3+ bei über 100 und bei den G4-Anlagen über 2000. Der EROI beschreibt das Verhältnis der im Verlaufe der Lebensdauer eines Kraftwerks insgesamt erzeugten Energie zur eingesetzten Energie.

Schematische Darstellung eines Salzschmelzreaktors der vierten Generation. Bild: BASE
Schematische Darstellung eines Salzschmelzreaktors der vierten Generation. Bild: BASE

Nach neuesten Informationen des Bundesrechnungshofs wird die Energiewende wohl an der Kostenexplosion scheitern. Wie schätzen Sie die Aussicht ein?

Um die Energiewende mit den Klimazielen entsprechend dem Deutschen Klimaschutzgesetz von 2021 umzusetzen, benötigen wir jährlich einen Investitionsaufwand von 200 bis 300 Milliarden Euro. Bis 2045 wären dies dann weit über 5000 Milliarden Euro. Dies läßt sich übrigens mit dem einfachen Dreisatz gut berechnen.

Da auch nach diesen kurzlebigen Investitionen mit hohen Energiekosten zu rechnen ist, sind das finanztechnisch keine Investitionen, sondern Subventionen, und ich bin mir sehr sicher, daß dies mit einem massiven Bonitätsverlust von Deutschland einhergehen wird, und die Gefahr besteht, daß wir die Euro-Länder mitreißen.

Sagen wir, die Bundesregierung käme morgen zur Besinnung und begreift die Notwendigkeit der Kernkraftnutzung in Deutschland. Wäre es technisch überhaupt möglich, daß das Land wieder in die Kernkraft einsteigt?

Die Parteien werden sich in einer Demokratie immer nach der Meinung der Bevölkerung richten, sie wollen ja gewählt werden. Das heißt, die Bundesregierung wird kein Programm gegen die politische Mehrheit der Bevölkerung beschließen. Nach 40 Jahren Widerstand, Protest und Medienschelte gegen Kernenergie mit Begriffen wie „kein Endlager“, „unverantwortlich“, „unbezahlbar“, „teuflisch“, sehe ich heute keine Basis für einen Wiedereinstieg in die Kernenergie.

Ich rechne mit einem schweren Niedergang der deutschen Industrie verbunden mit massiven Wohlstandsverlusten der Bevölkerung, beschleunigt durch die momentanen Kriegsereignisse. Erst nach einem solchen Niedergang ist ein Umdenken in der Bevölkerung vorstellbar.

Außer einer möglichen Wiederinbetriebnahme der letzten 3 bis 6 stillgelegten Reaktoranlagen sehe ich in den nächsten 4 bis 5 Jahren keinen politischen Beschluß zum Bau neuer Kernkraftwerke. Durch das Fehlen einer kerntechnischen Industrie in Deutschland und auch in Europa insgesamt ist ein Neubau mit einer Inbetriebnahme vor dem Jahr 2035 nicht zu rechnen. Damit bleiben uns in Deutschland vorerst nur „erneuerbare Energien“ und thermische Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen samt CO2-Abscheidung und CO2-Verpressung.

Die heutige Planung von Gas-Backup-Kraftwerken mit einer Wasserstoffwirtschaft wird sich aufgrund des schlechten Rückverstromungswirkungsgrades von ungefähr 20 Prozent nicht durchsetzen.

Energiepolitik ist nur langfristig planbar und benötigt eine Planungssicherheit von mindestens 50 Jahren, eine Vorplanungs-, Genehmigung- und Errichtungszeit von 15 bis 20 Jahren und eine Zeit der Abschreibung der Anlagen von mindestens 30 Jahren. Sehr viele Länder planen weltweit den Neubau moderner Kernkraftwerke. Unter den Industrienationen macht nur Deutschland eine Ausnahme, mit einem bereits absehbaren wirtschaftlichen Niedergang.

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