Die Wernadskij-Strategie

Oberst (a.D.) Alexander A. Ignatenko ist leitender Wissenschaftler am Regionalmuseum von Krementschuk im ukrainischen Landkreis Poltawa, wo er lebt. Als Absolvent der (sowjetischen) Militärtechnischen Schule der Nationalen Luftabwehrkräfte und der Militärakademie für Artillerie arbeitete er 33 Jahre als Elektroingenieur im sowjetischen Raketenkorps. In seiner zivilen Laufbahn war er u. a. am Poltawa-Museum für Luftfahrt und Weltraumerkundung sowie als Dekan der Polytechnischen Hochschule von Komsomolsk-am-Dnjepr tätig. Er hat zahlreiche Schriften über wichtige Weltraumforscher und über Leben und Werk von W. I. Wernadskij veröffentlicht. 1996 organisierte er die Errichtung des ersten Denkmals in der Ukraine für den Weltraumvisionär Yu. V. Kondratjuk (1897-1942, richtiger Name A. I. Schargej), der aus dem Landkreis Poltowa stammt und der 1929 in einer Schrift mit dem Titel Die Eroberung des interplanetaren Weltraums das Konzept der „Gravitationsschleuder” vorschlug, welches später bei Flügen zum Mond benutzt worden ist. Ignatenko organisierte zahlreiche wissenschaftliche Konferenzen über Wernadskij in Krementschuk, wo Wernadskij seine ersten bodenkundlichen Forschungen angestellt hatte.


Alles Leid, das die Menschen erleben, kommt nicht so sehr daher, nicht die richtigen Dinge zu tun, sondern davon, die falschen Dinge zu tun.

– L. N. Tolstoi

Das Jahr 2013 verdient zu recht, Wernadskij-Jahr genannt zu werden. Vorbote für dieses Jubiläum, den 150. Jahrestag der Geburt von Wladimir Iwanowitsch Wernadskij, war 2012 der 90. Geburtstag des bekannten amerikanischen Gelehrten und Politikers Lyndon LaRouche.

LaRouche entdeckte eine großartige Metapher, die die Dringlichkeit unterstreicht, Wernadskijs Ideen zum Leben zu erwecken: Die Wernadskij-Strategie. Er hat einem Artikel aus dem Jahr 2001 diese Überschrift gegeben.((Lyndon LaRouche, „Current Strategic Studies: The Vernadsky Strategy“, EIR, 4. Mai 2001.)) Ich entlehnte diesen Titel für eine 2003 erschienene Schriftensammlung. Die „Wernadskij-Strategie” existiert somit als Themengebiet. Unter dieses Themengebiet fallen Wernadskijs Gedanken über die Föderalisierung der Genossenschaftsarbeit, den Sozialstaat (im Sinne eines dem Gemeinwohl verpflichteten Staates) und die Beziehungen zwischen Arbeit, Kapital und Kreativität. Wir ehren Wernadskij: Um sein Andenken zu erhalten, studieren und fördern wir seinen Nachlaß.

Oberst (a.D.) Alexander A. Ignatenko

Hier in unserer Region Poltawa der Ukraine drückte Wernadskij 1890 auf einer Forschungsexpedition mit seinem Lehrer Wasilij Dokutschajew erstmals seine Gedanken über lebende Materie aus, jenes zentrale Konzept seiner Lehre von der Biosphäre, und er bekam eine Ahnung von der Idee der Noosphäre, dem Ort und der Rolle des menschlichen Geistes in historischen und kosmischen Prozessen. Er regte an, jede Geschichtsepoche nach der Intensität ihrer Geistesaktivitäten zu bewerten, welche Veränderungen in diesen Prozessen regulieren und Harmonie inmitten des globalen Chaos schaffen.

Aus seiner Sicht von angewandter Wissenschaft und organisierter Arbeiterschaft als Faktoren in der gesellschaftlichen Entwicklung gab er die Aufgabe aus, eine allgemeingültige Einheit für den quantitativen Ausdruck der natürlichen Produktivkräfte zu entwickeln, was besonders vordringlich wäre, wenn die Notwendigkeit entstünde, in Eile vorwärts zu schreiten („Über die Aufgaben und die Organisation der angewandten Wissenschaftsarbeit der Akademie der Wissenschaften der UdSSR”, 1928). Dieses Bestreben wurde später von Pobisk G. Kusnezow (1924–2000) und von LaRouche (in seinem Konzept der kontinentalen Entwicklungskorridore) fortgeführt.

Wladimir Wernadskij in seinem Arbeitszimmer in Moskau 1940.

Von der Biosphäre zur Noosphäre

In seinem Bemühen, neue Ideen für die Menschheit zu entwickeln, formulierte Wernadskij die Vorstellung, daß sich die Biosphäre in die Noosphäre umwandelt. Die Umstände, unter denen er die Idee von der Noosphäre der Öffentlichkeit mitteilte, waren von seinem Ziel bestimmt, aus den Entdeckungen der Wissenschaft Schlußfolgerungen sozialer Natur zu ziehen, da die Kultur, die die gesamte Erdoberfläche umspannt, ein Produkt des wissenschaftlichen Denkens und der wissenschaftlichen Kreativität ist (ψ, 1938). Er verband diese Idee mit dem Sieg im Krieg und dem Anbruch einer neuen Ära, wenn aus den Geschehnissen die richtigen Schlüsse gezogen wür den. Er äußerte diese Idee in einem kurzen Artikel mit der Überschrift „Einige Anmerkungen über die Noosphäre”((W. I. Wernadskij, „Einige Anmerkungen über die Noosphäre“, in FUSION 02/2005.)) (1944), den er an seinen Sohn in den USA schickte:

„In unserem Jahrhundert hat sich ein absolut neues Verständnis von der Biosphäre entwickelt. Sie entsteht als ein planetares Phänomen von kosmischer Natur… Man kann nicht ungestraft gegen das Prinzip der Einheit aller Menschen als ein Naturgesetz verstoßen… Der historische Prozeß verändert sich direkt unter unseren Augen radikal… Die Menschheit insgesamt wird zu einer mächtigen geologischen Kraft. Damit ergibt sich das Problem des Wiederaufbaus der Biosphäre im Interesse einer frei denkenden Menschheit als einziger Totalität.
Dieser neue Zustand der Biosphäre, dem wir uns unbemerkt nähern, ist die Noosphäre… Jetzt er leben wir eine Periode erneuter geologischer evolutionärer Änderungen in der Biosphäre.”

Er wurde damals weder in der UdSSR noch in den USA verstanden. Aber versteht man ihn und seinen Optimismus etwa heute? Oder hat Schopenhauer recht, der den Optimismus als eine „absurde, ja ruchlose Denkungsart” und als „bitteren Hohn auf die Leiden der Menschheit” betrachtete?

Gedenkplakette für W.I. Wernadskij und W.W. Dokutschajew an dem Gebäude in Krementschuk (Ukraine), worin einmal das Hotel war, in dem beide während ihrer wissenschaftlichen Expedition 1890 gewohnt haben.

Für Wernadskij „beruht die menschliche Zivilisation auf einem spontanen planetaren Prozeß, dessen Gesetze erforschbar sind, und wir nähern uns einem Verständnis von ihnen. Die Zivilisation läßt sich nicht aufhalten, noch kann sie ihre Richtung ändern. Unbewußt erzeugt die Menschheit in der Gestaltung ihrer Geschichte ein Phänomen von großer Kraft. Wenn von einer Rückkehr in die Zeit der Barbarei die Rede ist, wird diese Seite des menschlichen Daseins vergessen: Die nichtzufällige und unaufhaltsame Natur und Richtung der kollektiven menschlichen Arbeit” (Brief an I. I. Petrunkewitsch, 2. November 1923).

Der Umbau der Biosphäre in die Noosphäre muß von vernunftgeleiteten Menschen bewerkstelligt werden. Wernadskij verband die Zukunft der Menschheit als soziale Organisation lebender Materie mit einer biologisch neuen Form des Menschen, der nicht mehr der Homo sapiens und für sein Überleben nicht von anderen Lebewesen abhängig wäre. „Um dieses soziale Problem zu lösen, muß man sich mit den eigentlichen Grundlagen menschlicher Stärke beschäftigen: Die Art der Ernährung und die vom Menschen verwendeten Energiequellen müssen geändert werden” (Menschliche Autotrophie, 1925).

Das betraf die Zukunft. Unterdessen brachte er (Tagebücher, 1944) die Bestätigung dieser Erkenntnisse im Leben der Menschen mit den vom Staat in der Organisation des Lebens vorgenommen Veränderungen sowie mit Veränderungen in der Natur des Staates selbst, welche in seinem Land eingeleitet worden waren, in Zusammenhang. Nach dem Sieg über den Faschismus würde daraus das direkte und notwendige Anwachsen der wissenschaftlichen Weltsicht entstehen, welche in der gesamten Geschichte den profundesten und stärksten Einfluß wissenschaftlichen Denkens auf die Entwicklung der Gesellschaft darstellt. Mit wissenschaftlichem Denken sei das Phänomen des „Sozialstaats für alle Menschen auf dem Planeten” definiert worden.

Die Vereinten Nationen haben diese Idee zum politischen Millennium-Ziel (1992) erklärt, und viele Länder nahmen sie in ihre Verfassungen auf. Wernadskij sah die Hauptgrundlage einer solchen Politik in der Suche nach Lösungen für „die fundamentalen Ereignisse unseres Planeten als Ganzem, was sich auf der einen Seite in der Abschaffung von Kriegen und auf der anderen Seite in der Ausrichtung des Sozialsystems an der wissenschaftlichen Forschung als Hauptaufgabe des Lebens ausdrückt” (Brief an seinen Sohn, 24. Januar 1944).

Entsprechend den Gesetzen der Dissymmetrie entstand die neue Weltordnung des Neoliberalismus und verbreitete sich unter dem Namen „Informationsgesellschaft” auf der ganzen Welt als Reaktion auf diese bewußte, wissenschaftlich begründete Bekräftigung des Sozialstaates. Die Ablehnung einer solchen Sozialpolitik seitens des Staates zugunsten der absoluten Herrschaft des freien Marktes erzeugte innerhalb von 25 Jahren eine zivilisatorische Krise der Menschheit. Die Menschen begannen wieder von Klassenschichten, der Gefahr des Totalitarismus und vom Abbau der Demokratie zusprechen; und der Neofaschismus zeigte seine Fratze. Der Enantiomorphismus steht bevor! Die „Nähe der Liberalen zu demokratischem Radikalismus und cäsaristischem Absolutismus”, wie S. L. Frank Puschkins Schrift „Über den Adel” zusammenfaßte, muß nun vom Standpunkt der physikalischen Evolutionsalgorithmen begriffen werden.

„Wernadskij am Ufer des Dnjepr“, Ölbild von N.T. Anisimow, 2003.

Die Gegenwart aus der Zukunft aufbauen

Die Vereinten Nationen haben das Konzept der nachhaltigen Entwicklung geltend gemacht. Der Rio+20Gipfel lief im Juni 2012 nahezu unbemerkt und scheinbar ohne bedeutendes Ergebnis ab. Hinter dem schönen Titel seiner Deklaration „Die Zukunft, die wir wollen” versteckten sich allerdings alarmierende Resolutionen über die Notwendigkeit, das bestehende Paradigma zu ändern und die Entwicklungsziele zu überdenken, wofür neue Entwicklungsindikatoren festgelegt werden sollten. Gibt es Vorbereitungen, um die zuvor formulierten Millenniumsziele zu revidie ren, oder ist dies eine Anerkenntnis für die dringende Notwendigkeit, sich von der bestehenden inerten Entwicklungsstrategie abzuwenden – eine Anerkenntnis, die vom Übergang von einer historischen Kulturepoche zur nächsten diktiert ist, in der die Gegenwart vom Standpunkt der Zukunft aufgebaut werden muß, anstatt diese als Fortsetzung einer in die Vergangen heit zurückweichenden Gegenwart zu planen? Anders gesagt, ist dies ein Versuch, die Antwort auf die Frage zu verstehen, woher die Zeit kommt, ob sie eine Herausforderung oder eine Aufforderung ist und ob wir
mit ihr Schritt halten oder ihr widerstehen sollten?

Wernadskijs Antwort lautet, das Ziel des Lebens ist die Entwicklung des Menschen. Er erzeugt es selbst und gestaltet seine Bedeutung, indem er sich wissenschaftlich der Wahrheit immer weiter annähert!

Die Sozialwirtschaft

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung von einem allgemeingültigen Ziel geleitet werden muß, das mit den wesentlichen Eigenschaften des Menschen, seiner Natur und Evolution, übereinstimmt, auch wenn diese Eigenschaften durch seine Existenz verformbar und tatsächlich verformt sind. Mit dem Sozialstaat geht die Sozialwirtschaft einher, welche jene unteilbaren, gemeinsam genutzten Sozialleistungen bereitstellt, die keiner Nutzungskonkurrenz unterliegen; sie bekräftigt das menschliche Gleichheitsbewußtsein (Tolstoi). Die Sozialwirtschaft braucht Lenkung, damit sie ihre Werte vermehren und den Bereich, worin sie genutzt werden, erweitern kann. Die wichtigsten dieser Werte sind die Umwelt und die universelle Kultur der Menschheit.

Die Sozialwirtschaft ist keine sozial orientierte Marktwirtschaft, die quasihumanistische Ziele verfolgt, so wie man Spieler im Wettkampf beschützt, die ihre Kampffähigkeit eingebüßt haben; sie ist vielmehr „sozial” im Sinne von wirklich menschlich. Dazu gehört, daß der Staat in der Gesellschaft Ordnung herstellt und aufrechterhält und der Staat mit der Hauptfunktion des Regierens und Organisierens ausgestattet wird.

Büste von Wernadskij, geschaffen von W. I. Wolkowa 2005. Geschenk von A. I. Ignatenko an Lyndon LaRouche 2009.

Spannungen zwischen dem Alten und dem Neuen, vor allem Widerstand gegen die Einrichtung von Neuem, selbst wenn er nachweislich begründet ist, könnte ent weder Anlaß für einen Bürgerkrieg oder eine Mission für Wachstum sein: „Man riskiert, alles zu verlieren, was man hat, wenn man das, was ist, so läßt, wie es ist”, schrieb Goethe.

Die Sozialwirtschaft geht von der Erkenntnis aus, daß die Marktwirtschaft begrenzt ist, denn deren Grundprinzip – Verbrauch, der die Zerstörung von Produkten und deren Entfernung aus dem Wirtschaftsaustausch bedeutet – kann nicht für das Gemeinwohl sorgen. Der kommerzielle Antrieb hindert sie daran.

Die wissenschaftliche Alternative zu einer monetären Wirtschaft ist die physkalische Ökonomie. Vom Standpunkt des Anthropokosmismus und der Noosphäre läßt sich der zukünftige historische Entwicklungsgang der Menschheit als Ganzer vorhersagen.

Die physikalische Ökonomie basiert weder auf der Moralphilosophie noch der politischen Ökonomie, sondern auf physikalischem und mathematischem Wissen. Sie wurde von dem Urheber des Begriffs physikalische Ökonomie, LaRouche, entwickelt, der dieses Konzept über seine politische Bewegung verbreitet und seine wahre Bedeutung im schöpferischen Denken des Menschen lokalisiert, der „durch seinen Willen die Fähigkeit besitzt, einen höheren Organisationszustand zu bewirken” – mit Hilfe des historischen Kredits, der keine monetäre Zuwendung an die Zukunft ist, sondern „menschliche Kreativität von Generation zu Generation”: Indem man „eine generationenüberspannende Verpflichtung” für großangelegte Megaprojekte (auch im Weltraum) eingeht, um „durch die Weitergabe einer gezielten Anstrengung die Kontinuität des Lebens, eines zweiten Lebens und eines nachfolgenden Lebens” sicherzustellen (LaRouche-Webcast vom 30. September 2011). Eine solche Generationenfolge ist das Gebot wahrer nachhaltiger Entwicklung!

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