Frauen haben in der Physik bzw. den Naturwissenschaften schon immer eine wesentliche Rolle gespielt. Besonders aber seit Ende des 19. Jahrhunderts, als Marie Curie die Geheimnisse der Radioaktivität entdeckte, haben sie die Erforschung der Atomkerne, der bis dahin kleinsten bekannten Bausteine des Lebens, vorangetrieben. Für sie alle war Marie Curie ein wegweisendes Vorbild: Für Lise Meitner aus Österreich, Marie und Irène Curie aus Polen, Maria Goeppert-Mayer und Ida Noddack aus Deutschland, Leona Wood, Gertrude Belle Elion, Rosalind Yalow aus den USA oder Dorothy Hodgkin-Crowfoot aus Großbritannien und viele andere aus der ganzen Welt, die den Weg zur friedlichen Nutzung dieser ungeheuren Energiequelle möglich machten. Ihre Rolle war so entscheidend, daß man sagen kann: ohne die Frauen gäbe es die Kernenergie nicht.
Eine für die Entwicklung der Kernphysik besonders bedeutende Frau war die chinesische Physikerin Chien-Shiung Wu, die als einer der weltbesten Experimentalphysiker in mehrfacher Hinsicht für das Weltbild der Physik bedeutend wurde. Keiner konnte sich in der experimentellen Forschung bezüglich der Untersuchung des Zerfalls radioaktiver Elemente, wie z.B. dem Beta-Zerfall, mit ihr messen: sie war bekannt für ihre brillanten Versuchsanordnungen und für ihre unerschöpfliche Energie, wenn es darum ging, den Naturprozessen auf die Spur zu kommen. Deshalb wurde sie auch zu Lebzeiten oft als die „Chinesische Madame Wu“, die „First Lady der Physik“ und später von ihren Studenten an der Columbia-Universität oft die „Drachen-Lady“ genannt.
Madame Wu wurde am 31. Mai 1912 in Liu He geboren, einer kleinen Stadt nahe Shanghai in der Provinz Jiangsu. Ihr Vater, ein Diplom-Ingenieur, war ein außerordentlicher Mensch. Denn weil es für Mädchen in Liu He keine Möglichkeit gab, zur Schule zu gehen, gründete er einfach eine: die Mingde-Schule (Mingde = Höchste Tugend = 明德). Er selber wurde der Direktor, und Wus Mutter fungierte als Lehrerin. Dies war die erste Schule in China, an der auch Mädchen am Unterricht teilnehmen durften. Mit neun Jahren entdeckte Chien-Shiung Wu ihre Begeisterung für Mathematik, Physik und Chemie und ging nach Abschluß ihrer Schulzeit an die berühmte Nationale Universität in Nanjing, wo sie 1934 ihren Abschluß machte.
Auch für Chien-Shiung Wu war Marie Curie das große Vorbild, und sie beschloß, ihr Leben der Kernphysik zu widmen. Sie sagte einmal: „Ich habe immer gespürt, daß man sich der Physik total und ohne Einschränkung widmen muß. Sie ist nicht irgendein Job. Sie ist eine Lebensweise.“
Als erstes erhielt sie die Gelegenheit, eine Forschungsstelle an der Nationalen Zentralakademie in Shanghai anzunehmen. Hier riet ihr ihre Mentorin, Professorin Gu Jing-Wei, die in den USA promoviert hatte, dies ebenfalls zu tun. So reiste Wu 1936 mit dem Schiff in die USA und schrieb sich an der Berkeley-Universität in Kalifornien ein, wo sie bei einem der damals führenden amerikanischen Kernphysiker, Ernest Lawrence, landete. Lawrence erkannte Wus experimentatorische Begabung und bat sie, die Entstehung von Edelgasen bei der Spaltung des Urans zu untersuchen. Bei diesen Arbeiten entdeckte Wu das Xenonisotop Xe-135, das eine Halbwertszeit von nur neun Stunden hat, d.h. nach neun Stunden ist schon die Hälfte des jeweiligen radioaktiven Materials in weitere Teile zerfallen.
Im Jahre 1940 machte Chien-Shiung Wu ihren Doktor in Physik, arbeitete von da an als Forschungsassistentin bei Ernest Lawrence und entwickelte sich zu einem der weltbesten Experten bezüglich aller Prozesse der Kernteilung und auch des Kernzerfalls. Eigentlich hätte sie damit sehr bald eine eigene Professorenstelle erhalten müssen, doch daraus wurde nichts, da sie eine Frau und noch dazu eine Asiatin war.
1942 heiratete sie ihren Kollegen Luke Yuan, der aus Peking stammte und ein Enkel des ersten chinesischen Präsidenten Yuan Shikai war. Das Ehepaar zog an die Ostküste und mußte schon kurz nach der Heirat lange Zeiten der Trennung im Dienste der Wissenschaft auf sich nehmen: Wu wurde Assistenzprofessorin am Smith College in Massachusetts, ihr Ehemann arbeitete in den RCA Research Laboratories in Princeton. Auch wenn beide Arbeitsstätten mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt lagen, half beiden die Faszination für ihre wissenschaftliche Arbeit viele Nachteile zu überwinden. Wu berichtete, daß ein Grund für ihre glückliche und dauerhafte Verbindung war, daß beide große Achtung für die wissenschaftliche Karriere des anderen Partners hatten und alles vermieden, was diese hätte beeinträchtigen könnte.
Beim Manhattan-Projekt
Ein Jahr später erhielt Wu Angebote von Princeton sowie der Columbia-Universität in New York, entschied sich aber für Princeton, wo sie die erste weibliche Physikprofessorin wurde. Ab 1944 wurde Wu, die sich zur weltbekannten Experimentalphysikerin entwickelt hatte, auch in das sogenannte „Manhattan-Projekt“ an der Columbia-Universität integriert, denn es wurde eine Methode gesucht, wie man das Uranmetall in seine Isotope U-235 und U-238 trennen konnte. Im Rahmen dieser Aufgabe entwickelte sie immer bessere Methoden der Isotopentrennung durch Gasdiffusion und beschäftigte sich in den darauffolgenden Jahren intensiv mit dem Beta-Zerfall, der in der Kernphysik eine zentrale Rolle spielt.
Was die Beteiligung von Frauen am Manhattan-Projekt angeht, so wird man sehr überrascht feststellen, daß insgesamt 85 Wissenschaftlerinnen daran mitarbeiteten, diese aber in beinahe keinem Bericht oder Buch erwähnt werden. Nur die beiden Physikerinnen Caroline Herzenberg und Ruth Howes haben sich sehr viel später diesen bedeutenden Frauen gewidmet.1
Eigentlich war nach der Entdeckung der Kernspaltung durch Lise Meitner und Otto Hahn das vorrangigste Ziel der Physiker, so schnell wie möglich eine Kettenreaktion zu entwickeln, so daß man diese ungeheure Energiequelle für die friedliche Energieerzeugung nutzen konnte. Dann aber brach der Krieg aus. Bis dahin hatten die meisten Physiker auf eine nichtmilitärische und friedliche Anwendung der Kernenergie gehofft, daß es also aus physikalischen und technischen Gründen nicht möglich bzw. unpraktikabel sein würde, eine sogenannte Atombombe zu entwickeln. Lise Meitner erinnerte sich daran in einem Artikel.2
„Ich möchte diese Darstellung nicht schließen, ohne zu sagen, wie sehr ich gewünscht hatte, die neu erschlossene Energiequelle möchte nur zu friedlichen Zwecken ausgenützt werden. Während des Krieges pflegte ich zu meinem Stockholmer Freund Oskar Klein zu sagen: ,Ich hoffe, die Konstruktion einer Atombombe gelingt nicht, aber oft fürchte ich, sie gelingt doch’.“
Auch ihr Neffe Otto Fritsch gehörte zu diesen Physikern. Er erinnert sich:
„Natürlich wurde auch das Gespenst einer Bombe – einer unkontrollierten Kettenreaktion – heraufbeschworen; doch wenigstens eine Zeitlang schien es, daß man sich davor nicht zu fürchten brauchte. Diese Sorglosigkeit gründete sich auf ein von Bohr vorgebrachtes Argument, das subtil war und überzeugend wirkte…
Dies alles war ganz richtig, und die Entwicklung von Atomreaktoren verlief insgesamt auf den Bahnen, die Bohr vorweggenommen hatte. Was er nicht voraussehen konnte, war der fanatische Scharfsinn der alliierten Physiker und Ingenieure, die von der Angst getrieben wurden, daß Hitler vor ihnen die Entscheidungswaffe entwickeln könnte…“
Die Disymmetrie der Materie und das starre Newtonsche Denken
Nach dem Krieg blieb Chien-Shiung Wu an der Columbia-Universität, wo sie ihre Forschungsarbeiten fortsetzte und bis 1981 Vorlesungen hielt. Hier wartete eine große und für die gesamte Wissenschaft bedeutende Entdeckung auf sie: die Widerlegung des sogenannten „Gesetzes der Erhaltung der Parität“, dem Gesetz der Parität oder Spiegelsymmetrie. Zwei chinesische Wissenschaftler, Tsung-Dao Lee und Chen-Ning Yang, hatten Madame Wu wegen ihrer herausragenden Experimentalfähigkeiten gebeten, ihre Theorie zu prüfen, die auf der Annahme beruhte, daß dieses Paritätsprinzip zwar für elektromagnetische und starke nukleare Kräfte gelte, jedoch bei schwächeren nuklearen Reaktionen bzw. subatomaren, im Kern vor sich gehenden Prozessen ungültig werden könnte. Sie hatten 1956 die Theorie veröffentlicht, daß in der Elementarteilchenphysik eine Vertauschung von rechts und links einen Unterschied machen kann, d.h. bei einer räumlichen Spiegelung Original und Spiegelbild nicht immer ununterscheidbar sein müssen (Paritätsverletzung), wie es im Paritätsgesetz definiert wird. Wu berichtete selber über diese Hypothese:
„Obwohl von 1952 an mein Interesse für den Beta-Zerfall allmählich nachließ, war er für mich immer noch wie ein alter Freund. Dafür würde es immer einen Platz in meinem Herzen geben. Dieses Gefühl wurde erneuert, als eines Tages im Frühling 1956 Professor T.D. Lee herauf in mein kleines Zimmer im 13. Stock der Pupin-Laboratorien kam. Er stellte mir eine Reihe von Fragen zum Stand des experimentellen Wissens über den Beta-Zerfall.“
Der Grund für sein Interesse war die Frage räumlicher Spiegelung bei subatomaren Reaktionen bzw. seiner Vermutung einer möglichen Paritätsverletzung bei schwachen Wechselwirkungen.
Schon Louis Pasteur hatte 1848 bei Untersuchungen der Kristallstruktur der Traubensäure entdeckt, daß die Kristallformen sich in polarisiertem Licht in entgegengesetzte Richtungen und nicht wie angenommen in die gleiche Richtung drehten. Er äußerte nach vielen ähnlichen Versuchen in einem Vortrag vor der Chemischen Gesellschaft in Paris die kühne Hypothese, die Ursache dafür müsse in der asymmetrischen Gruppierung der Atome im Molekül liegen.
Pierre Curie griff später Pasteurs Vermutung wieder auf, denn er sah in dem beobachteten Phänomen den klaren Ausdruck einer Asymmetrie als Vorgang – ein Prozeß, der anfangs in bezug auf bestimmte Parameter völlig symmetrisch erschien, wurde plötzlich asymmetrisch. Diese in Experimenten beobachtete Idee widerstrebte aber dem sogenannten „Paritätsgesetz“.
Die Entstehung des Paritätsgesetzes läßt sich aus der damals vorherrschenden rein Newtonschen Denkweise erklären, wonach die gesamte Materie aus punktförmigen Teilchen besteht, die sich wechselseitig entweder anziehen oder abstoßen, und daß die Anziehungs- und Abstoßungskräfte abhängig von ihrer Entfernung und ihrer Lage bzw. ihrer Geschwindigkeit sind. Daher müßte man sich von einem System von Teilchen ein zweites System vorstellen können, das das Spiegelbild des ersten ist und in dem die Anordnung der Teilchen genau die gleiche ist – eben nur gespiegelt. Beide Systeme müßten sich genau gleich verhalten, da die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen von ihren Lageverhältnissen abhängen. Beide müßten immer Spiegelbilder voneinander bleiben.
Alle europäischen Physiker waren sehr dem Newtonschen Denken verhaftet, hatten diese Auffassung sozusagen „mit der Muttermilch aufgesogen“, wie es Ulla Fölsing in ihrem Buch „Nobel-Frauen“3 ausdrückt. Diese wurde als so selbstverständlich erachtet, daß keiner je auf den Gedanken kam, dies experimentell zu überprüfen. Sie sagt weiter:
„Es bedurfte wohl der Unbekümmertheit der beiden von europäischen Denkstrukturen freien jungen Chinesen Lee und Yang, daß sie bei der Beschäftigung mit einem damals verzwickten Rätsel in der Elementarteilchenphysik auf die Idee verfielen, daß Original und Spiegelbild nicht immer ununterscheidbar sein müssen.“
Das berühmte Experiment der chinesischen Wissenschaftler
Außer den beiden jungen chinesischen Wissenschaftlern gab es tatsächlich keinen, der wirklich an den Erfolg eines solchen Experimentes glaubte; ihre Theorie wurde für nicht sehr wahrscheinlich gehalten. Auch Madame Wu glaubte eigentlich nicht daran, sie gab der Theorie eine Chance von 1:1.000.000, Richard Feynman wettete 50 Dollar dagegen und auch Wolfgang Pauli, immerhin einer der Pioniere der Quantenphysik, gab der Annahme von Lee und Yang keine Chance.
Trotzdem entschied Wu, das Experiment auf jeden Fall durchzuführen:
„Im Anschluß an Professor Lees Besuch begann ich die Sache zu durchdenken. Dies war eine goldene Gelegenheit zu einer Feuerprobe für einen Beta-Zerfall-Physiker, und wie hätte ich sie mir entgehen lassen sollen? Selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß die Paritätsverletzung beim Beta-Zerfall gültig war, so würde das experimentelle Ergebnis letztlich eine Obergrenze für seine Verletzung setzen und auf diese Weise weitere Spekulationen beenden, daß die Parität nicht verletzt wird.“4
Für die Untersuchung wollte sie radioaktives Kobalt-60 verwenden, welches durch die Aussendung von Beta-Teilchen zerfällt. Sie setzte Kobalt-60 einem starken elektromagnetischen Feld aus, um die Kernteilchen auszurichten und die Emission ihrer Elektronen zu beobachten. Sie war zwar mit dieser Methode seit langem vertraut, doch dieses Experiment bedeutete nie erprobte und schwierige Anforderungen. Davon war sie so gepackt, daß sie alle anderen geplanten Aktivitäten zur Seite schob:
„In diesem Frühjahr hatten mein Mann Chia-Liu Yuan und ich den Besuch einer internationalen Konferenz über Hochenergie-Physik in Genf geplant und wollten dann zu einer Vorlesungstour in den Fernen Osten weiterreisen. Beide hatten wir China 1936 verlassen, genau zwanzig Jahre zuvor. Unsere Passagen auf der ,Queen Elisabeth’ waren gebucht, ehe mir zu Bewußtsein kam, daß ich unverzüglich das Experiment machen mußte, bevor der Rest der Gemeinschaft der Physiker die Bedeutung dieses Versuchs erkannte und ihn vor mir anstellte. Obwohl ich fühlte, daß die Chancen, daß das Gesetz der Paritätsverletzung falsch sein könnte, vage waren, mußte ich das Experiment unbedingt machen. So bat ich Chia-Liu, ohne mich zu fahren. Zum Glück sah er ein, wie wichtig der Zeitfaktor war, und erklärte sich schließlich bereit, allein zu fahren.“
Das Experiment erforderte einen großen Aufwand und langwierige Vorbereitungen. Sie benötigte dafür die Hilfe eines Tieftemperatur-Laboratoriums, das es aber an der Columbia-Universität nicht gab, sondern sie mußte dafür beim National Bureau of Standards (NBS) in Washington anfragen, welches das am nächsten gelegene war. Dort arbeitete Dr. Ernest Ambler, der von Wus Plänen sofort begeistert war und seine Mithilfe zusicherte. Chien-Shiung Wu brauchte drei Monate Vorbereitungen an der Columbia-Universität, um Detektoren für Beta-Strahler zu testen und auch, um Effekte von Magnetfeldern zu studieren. Mit diesem Wissen ausgerüstet traf sie Mitte September in Washington ein, wo Ambler und ein Team von seinen Mitarbeitern bereit standen. Sie erinnerte sich nachher an diese kräftezehrende Aufgabe:
„In den aufregenden, doch auch nervenzerrenden Tagen und Nächten, als wir kaum Schlaf bekamen, hätten wir gern noch mehr solcher fähigen Mitarbeiter gehabt.“
Mitte Dezember 1956, also ein halbes Jahr nach dem Entwurf des Programms, sahen Wu und die NBS-Forscher nach einigen Rückschlägen und immer wieder neuen Anläufen erstmals einen Asymmetrie-Effekt. Doch sie waren noch mißtrauisch und berichteten erst einmal gar nichts. Jetzt begann eine noch schwierigere Phase der Untersuchungen. Bis zum Jahresende wurden die Versuche immer wieder und immer mehr verfeinert, um sicher zu sein, und Wu reiste ständig von ihrem Arbeitsplatz, ihren Vorlesungs- und Forschungsverpflichtungen an der Columbia-Universität nach Washington zu den spannenden Experimenten. Am Weihnachtsabend kehrte sie mit dem letzten Zug zurück, da der Flugverkehr wegen starker Schneefälle eingestellt war. Unermüdlich arbeitete sie weiter, bis sie Professor Lee endlich berichten konnte: Die Asymmetrie bei den Wechselwirkungen ist sogar auffallend groß, die Experimente sind eindeutig und klar und lassen sich jederzeit wiederholen.
Als Wu am 2. Januar dann zur letzten Testserie noch einmal nach Washington reiste, hatte sich bereits das Gerücht von ihrem erfolgreichen Experiment verbreitet, dem man die gleiche Bedeutung wie dem berühmten Michelson-Morley-Experiment zur Widerlegung der Existenz eines Lichtäthers beimaß. Und eine Woche später, am 9. Januar morgens um 2.00 Uhr, war es endlich soweit, daß alle Tests erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Damit war endgültig der Beweis für die Ungültigkeit des Paritätsprinzips erbracht!
Das fünfköpfige Forscherteam blieb an diesem Morgen noch im Labor und feierte den Abschluß dieser bedeutenden Arbeiten, und Wu schreibt:
„Dr. Hudson öffnete lächelnd seine Schublade, holte eine Flasche ,Cháteau Lafitte Rothschild 1949’ hervor, stellte sie auf den Tisch und ein paar Pappbecher dazu. Wir tranken auf den Untergang des Paritätsgesetzes.“
Sie reiste noch am selben Abend zurück nach New York, um sich mit Lee und Yang in der Columbia-Universität zu treffen, und die drei Physiker diskutierten die Ergebnisse der Experimente. Chien-Shiung Wu hatte bereits einen Bericht für die Physical Review verfaßt, zusätzlich veranstaltete der Fachbereich Physik drei Tage später eine Pressekonferenz, um diesen „dramatischen Untergang des geheiligten physikalischen Prinzips der ,Erhaltung der Parität’ bekanntzugeben“. Die Neuigkeit erschien am nächsten Tag als Schlagzeile in der New York Times und machte von dort ihren Siegeszug durch die ganze Welt.
Chien-Shiung Wu, der zahlreiche Wissenschaftspreise und Ehrendoktorwürden verliehen wurden, publizierte 1965 ein Buch über den von ihr grundlegend erforschten Beta-Zerfall, der nachher zu einem Standardtext in der Kernphysik wurde. Und im Jahre 1973 wurde sie als erste Frau zur Präsidentin der American Physical Society ernannt.
Von 1981 an war Madame Wu viel auf Reisen und hielt zahlreiche Vorlesungen, um vor allem auch junge Frauen in ihrer Wahl für die Naturwissenschaften zu bestärken. Immer wieder lehnte sie sich gegen die Benachteiligung von Frauen in der naturwissenschaftlichen Ausbildung, Forschung und Lehre auf. Und sie sagte: „Ich bezweifle stark, daß ein aufgeschlossener Mensch tatsächlich glauben kann, daß Frauen keine intellektuellen Kapazitäten für Wissenschaft und Technik hätten.“
Wus Hingabe für die Wissenschaft war legendär. Sie sagte immer: „Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist, wenn man abends aus dem Labor kommt und ein Waschbecken voll dreckigen Küchengeschirrs vorfindet: nämlich, daß man gar nicht ins Labor geht!“
Nach ihrer Emeritierung lebte Chien-Shiung Wu zurückgezogen unter dem Namen ihres Mannes in New York. Sie starb am 16. Februar 1997 im Alter von 84 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Beigesetzt wurde sie nach eigenem Wunsch in der von ihrem Vater gegründeten Schule in Taicang, wo sie unterrichtet worden war.
Lee und Yang erhielten noch im Jahr der Entdeckung den Nobelpreis für Physik, doch Wu ging leer aus, was viele als große Ungerechtigkeit betrachteten. Der eigentliche Grund hierfür war wahrscheinlich, daß die experimentelle Physik gegenüber der theoretischen auch damals schon benachteiligt wurde. Jedenfalls wurden weder Madame Wu noch die vier bedeutenden Wissenschaftler vom NBS geehrt, die die Polarisierung der Kobalt-Kerne durchgeführt hatten.
Es gab aber noch einen anderen Physiker, der parallel zu Chien-Shiung Wu und Lee und Yang an der University of Chicago über das Problem der Paritätsverletzung bei schwachen Wechselwirkungen experimentierte und diese wenig später ebenfalls bestätigte: Prof. Valentine L. Telegdi von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Er bemerkte zu dem Problem der Verleihung des Nobelpreises:
„Was nobelpreiswürdig ist und was nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Persönlich meine ich, daß ein Versuch, den Theoretiker explizit vorgeschlagen haben und der mit wohlbekannten Methoden ausgeführt wird, keinen Nobelpreis verdient (das gilt auch für mich).“
Das Bedeutende an der Sache ist aber nicht die Preisverleihung selbst, sondern der Umstand, daß die drei chinesischen Wissenschaftler durch ihre Hypothese auf der einen und ihr experimentatorisches Können auf der anderen Seite erfolgreich das veraltete, im Newtonschen System erstarrte europäische Denken aufgerüttelt haben! Für die Entwicklung der Wissenschaft ist das viel mehr wert, als irgendeine Trophäe zu erhalten. Ein Vergleich hiermit wäre durchaus die politische und wirtschaftliche Situation von heute, wobei die Idee der Neuen Seidenstraße und das komplett andere Win-Win-Denken dabei ist, das erstarrte oligarchische System des „Jeder gegen Jeden“ endlich aufzubrechen und hoffentlich bald zu überkommen.
1. Siehe Caroline L. Herzenberg, Ruth H. Howes, „Their Day in the Sun: Women of the Manhattan Project“, Temple University Press, Philadelphia 1999.
2. Lise Meitner, „Wege und Irrwege zur Kernenergie”, Naturwissenschaftliche Rundschau 16 (Mai 1963), S. 167-169.
3. Ulla Fölsing, Nobel-Frauen. Naturwissenschaflerinnen im Porträt, Beck’sche Reihe, 2002.
4. Chien-Shiung Wu, „One Researcher’s Personal Account“ in Adventures in Experimental Physics, Gamma Volume.