Von Keplers Weltenharmonie zu Wernadskijs Noosphäre

Dr. Jonathan Tennenbaum ist Europakoordinator des Fusions-Energie-Forums und hat wichtige Beiträge zu vielen grundlegenden Fragen der Naturwissenschaften geleistet.


„Was ist Leben?“ Wenn man einem heutigen Molekularbiologen diese Frage stellt, erhält man in der Regel zur Antwort, Leben sei nur ein besonderer biochemischer Vorgang, der auf der Erde durch eine Reihe sehr unwahrscheinlicher Zufallsereignisse in Erscheinung getreten sei. Wenn man dann einen solchen Biologen weiter fragt, ob er selbst denn lebendig sei, müßte er ehrlicherweise antworten: „Wahrscheinlich nicht!“ Und wenn man insistiert: „Glauben Sie, Sie seien tatsächlich eine Ansammlung von aufeinander einwirkenden Molekülen?“, antwortet er wohl: „Ja.“ „Können Sie mir dann sagen, welches Molekül jetzt gerade spricht?“

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die methodologische Inkompetenz in der heutigen Biologie und Medizinforschung nicht länger toleriert werden kann. Wir erleben auf der ganzen Welt den Ausbruch alter und neuer Menschen- und Tierseuchen, z. B. AIDS, Tuberkulose, Malaria, Cholera, Polio, Hepatitis, Dengue, BSE, Maul- und Klauenseuche (MKS) usw. Das Auftauchen dieser Krankheiten ist Ausdruck einer plötzlichen evolutionären Beschleunigung relativ niederer Lebensformen in der Biosphäre – Bakterien, Viren, Parasiten usw. – infolge des Wirtschaftszusammenbruchs in Afrika und anderen Entwicklungsregionen, infolge der Auswüchse des Freihandels, die in Großbritannien zum Ausbruch von BSE und MKS geführt haben, sowie infolge der Wahrscheinlichkeit einer künstlichen Erzeugung neuer Krankheitskeime in den Laboratorien.

Wenn dieser Prozeß anhält, ist nicht auszuschließen, daß die Menschheit selbst innerhalb weniger Generationen zu einer aussterbenden Art wird. Es ist unmöglich, daß die Techniken der Molekularbiologie und Genetik eine Antwort auf diesen anhaltenden „biologischen Holocaust“ geben könnten. Wir brauchen eine wissenschaftliche Revolution, ein wirkliches Verständnis des Lebens selbst als eigenes, aktives Prinzip in der Geometrie des Universums.

Darüber hinaus bedingen die großangelegten Infrastrukturprojekte, die in der kommenden Zeit für die Entwicklung Eurasiens erforderlich sind, ein menschliches Eingreifen in die sog. „natürlichen Ökosysteme“ – in die Biosphäre der Erde und sogar in das Wetter und Klima – in einem Maß, das alles bisher vom Menschen Unternommene übersteigt. Nicht nur die Regierungen und Planungsbehörden, auch die gesamte Bevölkerung, die an diesen großen Entwicklungsanstrengungen beteiligt ist (und deren politische Unterstützung hierfür mobilisiert werden muß) muß dafür eine klare Vorstellung von dem Prinzip haben, das ihrem Handeln zugrundeliegt.

Mit dem kriminell inkompetenten pseudowissenschaftlichen Unsinn, der in der Lehre der heutigen sog. „Ökologie“ vorherrscht – zum Beispiel die Behauptung, die Biosphäre befinde sich seit jeher in einem „Gleichgewicht“ – muß sofort aufgeräumt werden. Wir brauchen statt dessen einen wissenschaftlichen Begriff von der notwendigen Rolle des Menschen bei der Beherrschung und willentlichen Verbesserung der Biosphäre als Ganzer. Deswegen ist es vordringlich, zu dem Werk des großen Wissenschaftlers Wladimir Iwanowitsch Wernadskij – über den ich später mehr sagen werde – zurückzukehren und in bestimmter entscheidender Hinsicht über Wernadskij hinauszugehen.

Ich empfehle jedem hier Anwesenden, Wernadskijs Aufsatz von 1938 „Über die Unterschiede zwischen lebenden und nichtlebenden Naturkörpern in der Biosphäre“ zu lesen (siehe FUSION, Jg. 21, Nr.03/2000, S.24–41). Dort und auch in anderen Schriften legt Wernadskij den strengen Beweis vor, daß lebende Prozesse Ausdruck eines physikalischen Prinzips sind, das sich von den Prinzipien, die die Prozesse nichtlebender Materie auf der Erde beherrschen, absolut unterscheidet. Der Versuch von Molekularbiologen und anderen, lebende Prozesse auf die Physik und Chemie zu reduzieren, wie sie augenblicklich verstanden wird, ist so nutzlos und inkompetent wie die zahllosen Versuche im Laufe der Jahrhunderte, mit Lineal und Zirkel die Quadratur des Kreises zu erreichen. Der Kreis, so zeigte Nikolaus von Kues, repräsentiert eine höhere Seinsform, die nicht auf den Bereich von Linien und Vielecken reduzierbar ist, wie sie sich mit den Methoden der gewöhnlichen Geometrie konstruieren lassen.

Wernadskij sprach daher von einer „tiefen, unüberbrückbaren Kluft“, die die Prozesse des Lebens von allen anderen Prozessen auf der Erde trennt. Aber diesen entscheidenden Unterschied lediglich zu äußern, ist noch nicht das gleiche, als wenn man das Prinzip des Lebens selbst als universelles physikalisches Prinzip begreift. Das ist die große Aufgabe, die wir uns jetzt vornehmen müssen.

„Aber was ist denn ein ,universelles physikalisches Prinzip‘?“ mag jemand einwenden. Um das herauszufinden, sollte man zurückblicken und Platons Timaios lesen. Dort entwickelt Platon die Vorstellung, daß das Universum nicht ein Objekt der Art ist, das man sehen oder anderweitig sinnlich wahrnehmen kann. Vielmehr ist das Universum ein Prozeß des Werdens, der Entfaltung aufgrund einer Idee; genauso wie ein klassischer Komponist ein Musikwerk so komponiert, daß jeder Augenblick der Werkaufführung von einer einzigen Idee, der Absicht des Komponisten, beeinflußt und beherrscht wird. Genauso drückt die Entwicklung des Universums als Ganzes eine Absicht, ein universelles Schöpfungsprinzip aus. Es liegt jedoch in ihrer Natur, daß eine Absicht unsichtbar ist und deswegen nur mit dem Geist begriffen werden kann.

Aus diesem Blickwinkel müssen wir zum Beispiel die zentrale Anomalie der sichtbaren Geometrie verstehen, daß nämlich fünf und nur fünf verschiedene regelmäßige Körper im sichtbaren Raum konstruiert werden können. Die Besonderheit der fünf regelmäßigen Körper durchzieht die gesamte sichtbare Geometrie und liegt allen denkbaren Formen, die darin existieren können, zugrunde. Darüber hinaus haben die Körper eine hierarchische Ordnung: Sie sind alle von dem Dodekaeder (Zwölfflächner) ableitbar, der wiederum von der Kugel (mehrfach verbundene Kreisbewegung) umschlossen und davon mittels bestimmter Prozesse ableitbar ist, die als notwendiges Nebenprodukt die als „Goldener Schnitt“ oder „Göttliche Proportion“ bekannte geometrische Proportion hervorbringen.

Platons Verständnis von der Bedeutung der regelmäßigen Körper bedeutete einen ersten Schritt zu der entwickelteren Vorstellung Keplers, Leibniz‘ und Riemanns, wonach das höchste Prinzip der universellen Schöpfung eine geordnete Vielheit erkennbarer Ideen oder untergeordneter Prinzipien in sich schließt, die alle unterschiedliche Wirkungen im Universum haben. Diese Prinzipien selbst sind gewissermaßen ewig; sie sind immer vorhanden, aber ihre Ausdrucksart ändert sich entsprechend dem Augenblick, des Umstandes und des Mediums, worin sich ihre Aktivität ausdrückt.

Somit gehen die Idee des Menschen und das kognitive Prinzip dem physischen Entstehen des Menschen und seinen geistigen Prozessen voraus. Das räumt auch mit Darwins einfältiger, empiristischer Vorstellung der Evolution durch sogenannte Zufallsvariationen auf. Der wirkliche Vater einer evolutionären Ansicht des Universums, insbesondere der Evolution der Lebewesen als gerichtetem Prozeß, war Kardinal Nikolaus von Kues. Und diese Vorstellung einer gerichteten Evolution wurde durch die Arbeiten Wernadskijs brillant bestätigt.

Nikolaus von Kues begründete außerdem die Entwicklung einer höheren Geometrie, die über die einfache sichtbare Geometrie des Euklid hinauswies, aber bereits in Platons Timaios angelegt war. Die Existenz eines ständigen Entdeckungsprozesses im Universum, wie er sich in der schöpferischen Vernunft des Menschen ausdrückt, bedeutete, daß die Geometrie des Universums nicht bloß kugelförmig sein konnte, sondern die Idee einer ungleichförmigen Krümmung beinhalten mußte. Dies führte unmittelbar zu Keplers Entdeckungen und über Leibniz‘ Begründung des Integral-/Differential-Kalküls zur späteren synthetischen Geometrie von Monge und Gauß sowie schließlich zu Riemanns revolutionärer Konzeption einer allgemeinen Geometrie der mehrfach verknüpften Mannigfaltigkeiten.

Auch Leonardo da Vinci spürte den Absichten Platons und Cusas nach, indem er systematisch sämtlichen Phänomen im sichtbaren Universum von einem Standpunkt nachging: Wissen über die unsichtbaren Prinzipien des Universums läßt sich nur gewinnen, wenn man die charakteristischsten Bewegungsformen oder die von diesen Prinzipien verursachten Wirkungen untersucht und gegenüberstellt. Insbesondere zeigten Leonardo und sein Mitstreiter Luca Pacioli, daß man überall bei der Morphologie der Lebewesen, ihrem Wachstum, ihren Bewegungen und ihrer inneren Struktur auf die geometrischen Beziehungen des Goldenen Schnitts stößt; dagegen kommt der Goldene Schnitt in unbelebten Prozessen gewöhnlich nicht vor, zumindest auf der Ebene der sichtbaren Körper auf der Erde.

In diesem Rahmen gelang es Johannes Kepler, die Anomalien der Planetenbewegungen aufzuklären, womit er eine Revolution in Physik und Mathematik in Gang setzte. Indem er zeigte, daß der Mars keine kreisförmige, sondern eine nahezu elliptische Bahn verfolgt, schuf Kepler ein Paradox: Wenn die Bahn eines Planeten nicht kreisförmig ist und damit keine einfache mathematische Funktion hat, sondern sich in jedem beliebig kleinen Intervall auf nichtlineare Weise ändert, woher weiß dann der Planet, wie er sich bewegen soll? Die Umlaufbahn und die Umlaufgeschwindigkeit müssen die Wirkung eines Prinzips ausdrücken, das nicht einer genauen mathematischen Zahl oder Funktion entspricht, aber dennoch eine eindeutige Existenz aufweist: der „Geist des Planeten“, wie sich Kepler ausdrückte, oder eine Monade nach Leibniz‘ Begrifflichkeit. Wenn so der Effekt der Keplerschen Bahnbewegung des Planeten entsteht, handelt die Monade jedoch nicht allein, losgelöst vom übrigen Universum; vielmehr muß seine Bewegung auf die Existenz aller anderen Monaden (oder aktiven Prinzipien) im Universum reagieren oder sich daran anpassen. Das Ergebnis ist ein harmonisch geordnetes Sonnensystem, in dem die kombinierte Wirkung einer Vielzahl von Prinzipien einem höheren Ordnungsprinzip gehorcht, das Kepler in der Sonnenaktivität festmacht.

Dieser Keplersche Begriff der „universellen Gravitation“ wurde meisterhaft von Gauß bestätigt, als er zeigte, daß der Asteroidengürtel die Folge einer gesetzmäßigen Dissonanz ist, die von der mehrfach verbundenen (polyphonen) Struktur des Sonnensystems erzeugt wird. Andererseits stellte Kepler fest, daß die Ordnung des Sonnensystems insgesamt die gleichen vom Goldenen Schnitt bekannten harmonischen Beziehungen ausdrückt, wie man sie sonst nur in lebenden Prozessen auf der Erde findet. Kepler vermutete deshalb, daß die Existenz von Leben in der spezifischen Form, wie wir es auf der Erde finden, in irgendeinem Zusammenhang mit den spezifischen harmonischen Eigenschaften der Erdumlaufbahn stehen müsse.

Gleichzeitig begründete Kepler in seinem Aufsatz über die „Schneeflocke“ die Methode der Kristallographie, die der experimentellen Wissenschaft erstmals die Möglichkeit eröffnete, vom makroskopischen in den mikroskopischen Bereich als Grundlage für morphologische Unterscheidungen lebender und nichtlebender Prozesse auf makroskopischer Ebene einzudringen. Später benutzte Mendelejew Keplers Methode zur Ableitung des Periodensystems der chemischen Elemente – eine wesentliche Vorarbeit für Wernadskijs Forschungen.

Etwa zur gleichen Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, legte Louis Pasteur mit Hilfe der gleichen Methode die Grundlage der modernen Biologie und Biophysik. Erstens zeigte Pasteur, daß die alkoholische Gärung, durch die Bier, Wein usw. entsteht, der ausschließliche Effekt eines Lebensprozesses ist. Zweitens, daß die Produkte dieses Lebensprozesses – bei der Weingewinnung beispielsweise in Form von Kristallen der Weinsäure – kristallographische (d.h. mikrophysikalische) Eigenschaften aufweisen, die sich von denen der Produkte gewöhnlicher, nichtlebender chemischer Prozesse absolut unterscheiden. In allen chemischen Verbindungen, die völlig außerhalb des Einflusses lebender Prozesse hergestellt werden, kommen die zwei spiegelbildlichen Formen dieser Moleküle immer in gleichen Anteilen vor, wohingegen die natürlichen Produkte lebender Prozesse (insbesondere lebenden Gewebes) gemeinhin nur die eine der zwei Substanzen, entweder die links- oder die rechtshändige Version, enthalten.

Wer war Wladimir Iwanowitsch Wernadskij?

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns nun mit dem Werk Wladimir Iwanowitsch Wernadskijs beschäftigen, der am 26. Februar 1863 in St. Petersburg geboren wurde und am 6. Januar 1945 in Moskau gestorben ist. Sein Vater war ein bekannter Intellektueller und Professor der politischen Ökonomie, seine Mutter war Musiklehrerin und Sängerin in einem berühmten Chor; beide stammten aus der Ukraine. Wladimir Wernadskij studierte Chemie, Kristallographie, Mineralogie und andere naturwissenschaftliche Fächer an der St. Petersburger Universität, u. a. bei dem großen Chemiker und Staatsmann Dmitrij Mendelejew, dem Chemiker Alexandr Butlerow und dem Mineralogen Wasilij Dokutschajew, einem Pionier der Bodenforschung. 1883 unternahm Wernadskij eine erste Auslandsreise nach Frankreich, Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern.

Mit seiner ungeheuren Fähigkeit zum intensiven und ausdauernden Studium entwickelte sich Wernadskij zu einem Universalgelehrten im Sinne von Alexander von Humboldts „Kosmos“. Gleichzeitig war er auch ein großer Organisator von Wissenschaft und Erziehung, er gründete Dutzende von Instituten und Forschungsprojekten, darunter nicht zuletzt das Kernenergieprogramm der Sowjetunion. Schon 1910 erkannte er, daß die Kernenergie die Beziehung des Menschen zur Natur nachhaltig verändern würde, Anfang der 20er Jahre arbeitete er in Paris mit Marie Curie zusammen und setzte in Rußland und der Ukraine ein umfassendes Forschungsprogramm in Gang. 1934 bildete er eine Kommission zur Untersuchung des schweren Wassers, 1939 eine Kommission über Isotope, und 1940 ergriff er schließlich die Initiative, um die 14köpfige „Sonderkommission für Uranprobleme“ zusammenzubringen, darunter Kurtschatow, Joffe und Mandelstam, die zur Kerngruppe des sowjetischen Atombombenprojekts wurde.

Wernadskij hatte starke politische Neigungen, vor allem kümmerte er sich um die Allgemeinbildung und den wissenschaftlichen Fortschritt in Rußland, der Ukraine und allen Nationen. Bereits zur Jahrhundertwende spielte er im republikanischen Ferment der Universitätsstudenten eine führende Rolle, wurde ein Führungsmitglied der Konstitutionellen Demokratischen Partei, wurde wiederholt in den russischen Staatsrat gewählt und bekleidete hohe Ämter in der russischen Regierung; so war er stellvertretender Bildungsminister in der Zeit unmittelbar vor der bolschewistischen Revolution.

Aber sein wahrscheinlich wichtigstes Amt war das des Leiters der „Kommission zur Untersuchung der natürlichen Produktivkräfte Rußlands“ innerhalb der russischen Akademie der Wissenschaften, der berühmten KEPS, von 1915–1918 (und dann erneut in anderer Form während des Zweiten Weltkrieges). Diese Kommission war im Rahmen einer wirtschaftlichen Kriegsmobilisierung damit beauftragt, die strategischen Rohstofflager im riesigen Russischen Reich zu erfassen. Wie Wernadskij in einem späteren Brief berichtete, hätten die Erfahrungen mit KEPS und die Ereignisse des Ersten Weltkriegs seine „geologische Vorstellung der Welt“ radikal verändert. Zwischen 1917 und 1921, inmitten der politischen Turbulenz und Verwirrung im Zuge der bolschewistischen Machtübernahme und des anschließenden Bürgerkrieges und inmitten ständiger Reisen in der Ukraine und der Krim zur Schaffung neuer Institute und Bildungseinrichtungen in zahllosen Städten, machte Wernadskij seine grundlegenden konzeptionellen Entdeckungen.

Was waren Wernadskijs Gedanken über die tiefere Bedeutung der KEPS und anderer Aktivitäten? Er sah, wie sich die Menschen, bzw. Rußland, in einer wirtschaftliche Mobilisierung befanden: Gestein und Mineralien sah er vom Standpunkt menschlich kontrollierter Umwandlungsprozesse, bei denen aus Erzen Metalle, aus Metallen Maschinen und andere Werkzeuge der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion wurden. Andererseits waren die mineralischen Lagerstätten, wie aus Untersuchungen von Geologen und Geochemikern immer deutlicher hervorging, größtenteils selbst das Ergebnis von Aktivitäten lebender Prozesse – hauptsächlich von Mikroorganismen, aber auch von Pflanzen und indirekt von Tieren – im Zuge von Tausenden oder gar Millionen von Jahren.

Lebende Organismen nehmen Stoffe aus der Umgebung auf, wandeln diese mit Hilfe des Sonnenlichts um und nehmen Teile der umgewandelten Stoffe in den eigenen Organismus auf, während sie andere Stoffe oftmals weit vom Ursprungsort entfernt ausscheiden. Wenn ein solches Lebewesen stirbt, lagern sich seine Gewebebestandteile wieder in der Umwelt ab. Somit ist jeder lebende Organismus eine Quelle dessen, was Wernadskij einen „biogenen Fluß“ oder Fluß umgewandelter Materie und Energie in der Biosphäre genannt hat. Nicht nur die meisten mineralischen Ablagerungen auf der Erde entstanden durch die Einwirkung lebender Organismen, die spezifische Elemente umwandeln und konzentrieren, sondern auch die gesamte chemische Zusammensetzung der Erdatmosphäre, der Ozeane und der Erdoberfläche. Die Biosphäre als Ganze ist somit ein natürliches Produkt des Lebensprozesses insgesamt.

„Eine neue Welt öffnete sich für mich“, schrieb Wernadskij in seinen Lebenserinnerungen. Anstatt die alte Frage zu stellen „Was ist Leben?“, fragte Wernadskij: „Was bewirkt Leben?“ – was ist die Wirkung sämtlicher Lebensvorgänge zusammengenommen auf die Geologie und Chemie der Erde? Plötzlich ließ sich jetzt die gesamte Menge empirischer Belege und wissenschaftlicher Detailkenntnisse über die geologische Geschichte der Erde auf die alte Frage nach der Natur des Lebens anwenden. Wernadskij definierte die Biosphäre insgesamt als alle Bereiche der Erde, die von lebenden Organismen bewohnt sind. Er nannte die Gesamtheit aller Lebewesen, die zu einer bestimmten Zeit auf der Erde existierten, „lebende Materie“ und untersuchte deren Wirkung auf die Biosphäre im Maßstab der geologischen Zeit.

Wernadskijs Folgerungen waren klar und unzweideutig:

  1. Im Laufe der biologischen Evolution hat die gesamte „freie Energie“ lebender Materie in der Biosphäre – ihr Potential, bei der Umwandlung der Umwelt Arbeit zu leisten – beständig zugenommen. Es gibt kein natürliches Gleichgewicht, wie die kultischen Ökologen glauben, sondern die Biosphäre bewegt sich immer weiter vom Gleichgewicht weg.
  2. Infolge dieser Zunahme freier Energie ist die lebende Materie zur mächtigsten geologischen Kraft der Biosphäre geworden – selbst wenn die gesamte Masse lebender Organismen nur ein kleiner Bruchteil der gesamten wachsenden Materiemenge bleibt, die direkt und indirekt durch ihre Aktivität innerhalb der Biosphäre beeinflußt wird.
  3. Diese spezifische gerichtete evolutionäre Entwicklung, die zu einer ständigen Zunahme freier Energie lebender Prozesse in der Biosphäre führt, ist einzigartig für lebende Organismen, im nichtlebenden Bereich kommt sie nicht vor. Während der biologischen Erdgeschichte sind die Grundprozesse in der nichtlebenden Materie der Biosphäre über Milliarden von Jahren praktisch unverändert geblieben, außer wenn sie durch den Einfluß lebender Organismen modifiziert wurden.

Aber Wernadskij stellte eine weitere, noch interessantere Frage: „Was ist der Einfluß der sozialen Aktivitäten des Menschen auf die Entwicklung der Biosphäre?“ Ihm war klar, daß die wirtschaftlichen Aktivitäten der menschlichen Gesellschaft, die landwirtschaftliche und industrielle Produktion, Bergbau, Infrastruktur (Erzeugung und Verteilung von Energie, Wasser, Verkehrsnetze usw.) im Laufe der Geschichte das Wachstum und die Entwicklung der Biosphäre insgesamt beschleunigt haben. Dadurch nahm auch die „freie Energie“ der Biosphäre sowie die Fähigkeit des Menschen, diesen Effekt der Biosphäre fortzuführen und auszudehnen, pro Kopf und pro Quadratkilometer zu.

Wie ist das aber geschehen? Wie Lyndon LaRouche auf strengere und überzeugendere Weise gezeigt hat, als es Wernadskij möglich war, geschieht dies nur in einer Weise: durch die Erzeugung und Weitergabe von Ideen – in Form grundlegender wissenschaftlicher Entdeckungen, Ideen, die sich technologisch anwenden lassen, sowie von Prinzipien der klassischen Kunst und Staatskunst – durch den Geist der Menschen.

Auf diese Weise entstand ein „neues Stadium“ der Biosphäre, in der die weitere Evolution der Biosphäre selbst durch die Erzeugung und Weitergabe von Ideen angetrieben wird: die Noosphäre. So wie die Biosphäre ein natürliches Produkt des Lebens ist, so ist die Noosphäre (das bewußte Einwirken des Menschen auf die Biosphäre) Ausdruck eines spezifischen Prinzips, das sich vom Leben selbst unterscheidet und darüber hinausgeht.

Ironischerweise sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem die Verwirklichung der Noosphäre die Erzeugung einer sehr spezifischen neuen Idee erfordert: Die Idee, das universelle Prinzip des Lebens selbst zu entdecken – jenes Prinzip, das den Ursprung der einzigartigen Wirkung lebender Prozesse und deren systematischen Unterschied zu allen anderen Prozessen bildet, wie Wernadskij gezeigt hat.

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