Wenn der Mittelstand pleite geht

In das Jahr 2002 ist Deutschland mit einer Serie spektakulärer Großpleiten gestartet: Der Baukonzern Philipp Holzmann (23.000 Beschäftigte), der Thüringer Baudienstleister Mühl AG (3800 Beschäftigte), der zweitgrößte deutsche Flugzeugbauer Fairchild Dornier (3600 Beschäftigte), der größte deutsche Büroartikelhersteller Herlitz (3000 Beschäftigte) und schließlich der Kirch-Medienkonzern – mit 6,5 Mrd. Euro offiziellen Schulden und vielen weiteren Milliarden an optionalen Verbindlichkeiten der größte Unternehmensbankrott der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Doch während die großen Unternehmensbankrotte die Schlagzeilen beherrschen, läuft auf der Ebene der kleinen und mittleren Unternehmen Deutschlands ein mindestens ebenso dramatischer Prozeß ab. Ein Massensterben des Mittelstands hat eingesetzt, das in seinem Ausmaß alle bisherigen Dimensionen sprengt.

Unter den 32.300 Insolvenzen des Jahres 2001 befanden sich nur knapp 50 Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeiter. Die übrigen, also fast alle, waren Kleinbetriebe oder gehörten dem Mittelstand an. Rund 56 % der Pleiten entfielen sogar auf Unternehmen mit maximal fünf Mitarbeitern. Die Agentur Creditform erwartet, daß nach jetzigem Trend die Zahl der Pleiten weiter dramatisch ansteigen wird und 2002 sogar die Marke von 40.000 erreichen könnte.

Neue Prioritäten der Banken

Die düstere Auftragslage in vielen Branchen, vor allem dem Bau, stellt nur einen Teil des Problems dar. Mindestens ebenso bedeutsam wie leere Bücher ist die radikale Umorientierung des deutschen Bankensektors. Das in der Nachkriegszeit so erfolgreiche Sondermodell des deutschen Kreditwesens mit seiner starken öffentlich-rechtlichen Komponente und der langfristig ausgelegten Bindung von Unternehmen an ihre jeweilige „Hausbank“ war den Fürsprechern angelsächsischer „Shareholder-Value“-Mentalität schon immer ein Dorn im Auge und soll nun zertrümmert werden.

Der Hebel hierfür ist die Globalisierung der Finanzmärkte und die damit entbrannte weltweite Übernahmeschlacht. Auch für deutsche Banken hieß es fortan: schlucken oder selbst geschluckt werden. Nur diejenigen können überleben, so heißt es, die auf den gewinnträchtigen Feldern des „Investmentbanking“ zu den großen Spielern zählen. Aus dieser Sicht stellt die Vergabe von Firmenkrediten für die Banken nur noch ein lästiges, da wenig ertragreiches Nebengeschäft dar. Viel höhere Einnahmen locken im Geschäft mit den gegenseitigen Übernahmen international tätiger Großunternehmen sowie mit Börsengängen. Häufig ist der Firmenkredit nur noch der Köder, um das kreditnehmende Unternehmen dann schleunigst – gegen üppige Provision versteht sich – an die Börse zu führen. Die anderen Unternehmen werden an die Sparkassen und sonstigen halbstaatlichen oder staatlichen Kreditgeber oder, falls sie jung sind und märchenhafte Wachstumsraten versprechen, an die „Venture-Capitalisten“ verwiesen.

Fast alle großen Banken in Deutschland haben in den vergangenen Jahren ihre Kriterien für die Kreditvergabe an mittelständische Unternehmen deutlich verschärft. Einige von ihnen haben auch schon öffentlich verlauten lassen, daß sie sich von ihrer kleinen Firmenkundschaft vollständig trennen werden. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV) faßte die Lage im Herbst 2001 folgendermaßen zusammen: „Die privaten Konkurrenten, allen voran die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerzbank und auch die HypoVereinsbank ziehen sich flächendeckend und systematisch aus dem Geschäft mit mittelständischen Firmenkunden zurück.“

Bei dem Versuch, mittelständische Firmenkunden aus der Geschäftsverbindung herauszudrängen, zeigen die privaten Großbanken laut DSGV eine „fast schon bemerkenswerte Vielfalt“. Die Instrumente reichen von offener „Abschiebung“ bis hin zu „rigiden und subtilen Methoden“. So werde beispielsweise der Service für mittelständische Firmenkunden gezielt zurückgeführt, um die Kunden zu „vergraulen“. Entscheidungen über Kredite werden übermäßig in die Länge gezogen, es werden Nachbesicherungen gefordert, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit werden die Kreditlinien gekürzt.

Neue Sturmfront im Anmarsch: Basel II

Es wird noch schlimmer kommen. Regierungen, Aufsichtsbehörden und Banken basteln seit geraumer Zeit an einer Neufassung der Baseler Eigenkapitalrichtlinien von 1988. Danach dürfen Banken höchstens 12,5mal soviel an Krediten vergeben, wie sie an Eigenkapital besitzen. Umgekehrt: das Eigenkapital einer Bank muß mindestens 8 % ihres Kreditvolumens betragen, um für den Ausfall von Kreditnehmern gewappnet zu sein.

Wegen der Klagen der Banken über diese pauschalen Vorschriften arbeitet der Baseler Ausschuß für Bankenaufsicht – Vertreter von Zentralbanken und Bankenaufsehern aus den USA, Kanada, Japan und zehn westeuropäischen Ländern – schon seit einigen Jahren an einer Reform des Regelwerks. Es soll vor allem darum gehen, die Kreditnehmer nach Kreditwürdigkeit zu unterscheiden, so daß die Banken künftig Kredite an erstklassige Schuldner mit deutlich weniger als 8 % Eigenkapital unterlegen können.

Der Verlierer des neuen Systems steht jetzt schon fest: der Mittelstand. Denn anders als bei den großen Kapitalgesellschaften steht und fällt der Erfolg eines Personenunternehmens mit den unternehmerischen Fähigkeiten einer einzigen Person, des Inhabers, der sich auch selbst seine wichtigsten Mitarbeiter ausgewählt hat. Es war gerade die Stärke des Hausbankenprinzips, daß die kreditgebende Bank durch langjährige Tätigkeit vor Ort mit den Inhabern der kreditnehmenden Unternehmen ausreichend vertraut war, um eine realistische Einschätzung der Kreditwürdigkeit treffen zu können. In Zukunft soll statt dessen eine „objektive“ Bewertungsmethode eingeführt werden, die dann darüber entscheidet, ob und zu welchen Konditionen ein Kredit gewährt wird. Dabei geht es dann um Zahlen wie Eigenkapital, „Cashflow“ oder in der Bilanz ausgewiesene Gewinne. All dies wird schließlich zusammengefaßt zu dem, was man im Neudeutschen als „Rating“ bezeichnet. Jedes Unternehmen muß sich also fortan darum kümmern, ein solches Rating von einer der Ratingagenturen – das kostet dann rund 50.000 Euro – oder alternativ von einer Bank einzuholen.

Die großen Rating-Agenturen, die bei den spekulativen Exzessen mit Technologieaktien eine zum Himmel schreiende Inkompetenz und Tagblindheit offenbarten, werden auf diese Weise auch zum Schiedsrichter über Kredite an den Mittelstand. Aufgrund der chronischen Eigenkapitalschwäche der kleineren und mittleren Unternehmen in Deutschland – gerade weil sie traditionell nicht von „Shareholder-Value“-Interessen abhängig werden wollen – sind schlechte Benotungen, und damit höhere Zinsen, vorprogrammiert. Die neuen Richtlinien, „Basel II“ genannt, treten zwar erst im Jahre 2006 in Kraft, dienen den Banken aber schon jetzt als Vorwand, um die Konditionen für Mittelstandsunternehmen zu verschärfen.

Die 3,3 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen Deutschlands stellen 80 % aller Arbeitsplätze, 85 % der Ausbildungsplätze, erwirtschaften die Hälfte des Bruttosozialprodukts und bilden die Grundlage für zwei Drittel der öffentlichen Sozial- und Steuereinnahmen. Werden sie den Interessen der globalen Finanzmärkte geopfert, ist es auch um die deutsche Wirtschaft geschehen.

Eine Katastrophe bahnt sich an, die, da die nächsten Wahlen nicht mehr fern sind, inzwischen selbst den Bundeskanzler aufgeschreckt hat.

Um das Schlimmste zu verhindern, sollen demnächst konkrete Vorschläge für die Gründung einer „Mittelstandsbank“ vorgelegt werden. Im wesentlichen soll es dabei um eine Ausweitung der Mittelstandsaktivitäten der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) gehen. Schon jetzt gewährt die KfW Kredite an den Mittelstand, wobei sie aber, wegen fehlender Filialen, bislang auf die Geschäftsbanken als Vermittler angewiesen ist. Durch Zusammenlegung mit der staatlichen Deutschen Ausgleichsbank und der Industrie-Kreditbank (IKB) erhielte die KfW ihre eigenen Filialen. Eine derartige Ausweitung der KfW-Aktivitäten wäre in jedem Fall zu begrüßen, kann aber den Verlust Hunderter Filialen und Tausender Firmenkundenbetreuer seitens der Geschäftsbanken nicht wettmachen. Wenn dem alles niederwalzenden „Shareholder-Value“-Wahn kein größerer Widerstand entgegengesetzt wird, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Sparkassen und Landesbanken aus der Finanzierung des Mittelstands herausgebrochen werden.

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