Für uns war er einfach unser „Dad“

Das folgende Grußwort hat Krista Ehricke, die Tochter von Krafft Ehricke, an die Konferenz in München übermittelt.


Guten Morgen. Mein Name ist Krista Ehricke. Meine Freundin Marsha Freeman hat mich gebeten, ein wenig über meinen Vater zu sprechen, wie ich und meine Schwestern ihn kannten. Sie alle kennen ihn als weit vorausschauenden Weltraum-Enthusiasten und Wissenschaftler. Für uns war er einfach unser „Dad“. Heutzutage sagen meine Freunde: „O, dein Vater war ein Raketenforscher“ und dann kommt Gekicher, weil „Raketenforscher“, gleichbedeutend mit „Genie“ ist und weil keiner weiß, wie er wirklich war. Sie alle kennen seine wissenschaftlichen Errungenschaften, seine innovativen Ideen und sein enormes Verständnis des menschlichen Geistes. Es gibt sehr viel zu sagen, aber aus meiner Perspektive sind das die alltäglichen Dinge, an die andere nicht denken. Er war brillant, aber er war noch viel mehr, als Mensch und Vater. Er schätzte seine Familie sehr, und wir schätzten ihn.

Eine der Grundregeln in unserem Haus war, daß mein Vater arbeitete, wenn er zuhause war, und wir dann leise sein mußten. Das ist nicht einfach mit drei Mädchen, und in den 60er Jahren waren das zwei kleinere und ein Teenager. Ich war der Teen oder kurz davor. Mein Vater hatte hinten im Haus ein Arbeitszimmer, das war sein Heiligtum, das seine lärmenden, spielenden Töchter nicht betreten durften. Meine Mutter sagte immer, unser Vater habe wichtige Dinge zu rechnen und zu schreiben, und wir dürften nicht lauthals schreien oder durchs Haus toben, sonst bekäme er Kopfschmerzen, was natürlich nicht gut war.

Schließlich fand ich heraus, wie ich mehr Zeit mit ihm verbringen konnte, nämlich durch meine Vorliebe für Bücher. Er hatte in seinem Arbeitszimmer natürlich viele Bücher zu vielen Themen, also sagte ich, ich möchte sie anschauen und eines zum Lesen aussuchen. Welche Eltern würden es ihrem Kind abschlagen, wenn es lesen will? Da Lesen keinen Lärm machte, bekam ich immer die Erlaubnis, das innerste Heiligtum zu betreten. Dort lag ich dann auf dem Boden, auf dem Bauch mit angewinkelten Beinen, und meistens landete ich bei „Aufstieg und Fall des Römischen Reiches“. Das gefiel mir am besten. Es war ein sehr schönes Gefühl, einfach nur vor seinem Schreibtisch auf dem Boden zu liegen und zu lesen. Ich wußte, daß er da war, und fühlte mich ihm nahe. Und wenn ich gelegentlich eine Frage hatte, konnte ich sie stellen, und er antwortete mir. Es war für mich eine perfekte Situation.

Die Familie hatte die Tradition der altmodischen gemeinsamen Abendessen, und meistens war Vater zuhause. Unsere Gespräche waren lebhaft. Meine Eltern lenkten das Tischgespräch auf die Nachrichten oder Politik oder Familienangelegenheiten, die besprochen werden mußten. Natürlich kam die Schule zur Sprache, aber oft waren es abstrakte Themen, wie Politik, Moral oder Philosophie, sogar Mythologie. Er dachte sich Situationen aus und fragte mich dann: wie würdest du reagieren oder was denkst du darüber? Er sagte mir niemals, daß etwas falsch war, er wartete immer, bis ich es selbst herausfand. Er stieß mich mit einer provozierenden Frage an und brachte mich zum Nachdenken.

Später wurde mir klar, daß das seine Methode war, meine Neugier anzuregen, denn jedesmal, wenn ich seine Frage nicht beantworten konnte, lief ich schnell zum Lexikon und sah das Thema nach. Wir hatten vier große Lexika zuhause, ich hatte also viel zu lesen, um die gewünschten Antworten zu finden. Mir gefiel es nicht, wenn ich etwas nicht wußte, also trieb mich das an, nach einer Antwort zu forschen. Ich erinnere mich noch sehr genau, daß mir niemals gesagt wurde: „Das ist falsch.“ Sondern mein Vater fragte mich, warum ich so dachte. Wenn ich ihm zeigen konnte, daß mein Denkprozeß begründet war, lobte er mich sehr dafür und schlug dann freundlich vor, mir die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten oder weiter zu forschen und ihm danach zu sagen, was ich dachte.

In den 60er Jahren, zur Zeit von Präsident Kennedys Wettlauf im All, war ich in der Highschool. Meine Schwestern sind acht und zehn Jahre jünger als ich, sie waren also ziemlich jung, und ich bekam von dieser Aufregung am meisten mit. Mein Vater war oft in San Diego im Fernsehen, und so wurde ich an meiner Schule ziemlich bekannt. Die Presse interviewte mich, und ich erzählte ihnen viel von meinen hohen Ambitionen. Am Ende wurde aus alledem nichts, aber damals hatte ich die Unbekümmertheit der Jugend.

Zu dieser Zeit hatte mein Vater mit den ersten Astronautenteams zu tun. Ich hatte das Privileg, einige von ihnen kennenzulernen, und ich mochte Scott Carpenter und Alan Shepard sehr gerne. Wer meinen Vater gekannt hat, der weiß, er haßte Dinge wie Pressekonferenzen oder Cocktailpartys, wo es nur Smalltalk gab – mit anderen Worten, die politische Seite des Wettlaufs im All. Er war überzeugt, daß er dort nur seine Zeit vergeudete und sie hinter seinem Rechenschieber besser nutzen könnte. Einmal sollte er zu einer Pressekonferenz und einem Dinner gehen, was ihn ziemlich nervte. Er beschloß, daß ich an seiner Stelle hingehen und ihn dort vertreten sollte. Meine Begleiter waren Scott Carpenter and Alan Shepard. Ich war natürlich begeistert! Ich als Schülerin durfte mit Astronauten ausgehen! Es war wichtig, also suchten meine Mutter und ich für die Gelegenheit ein grünes Taftkleid aus.

Die Astronauten holten mich zuhause ab. Sie waren sehr freundlich und spielten meine Beschützer, ließen niemals von meiner Seite. Nach dem Dinner gab es Kaffee und Kuchen. Ich war so nervös bemüht, in dem erlauchten Kreis nichts falsch zu machen, daß ich mir meinen Kaffee vorne über das ganze Kleid verschüttete. Taft wird dunkler, wenn er naß wird, und da stand ich, das ganze Kleid voller Kaffeeflekken. Sie können sich vorstellen, wie schrecklich mir zumute war, wo jedermann die dunklen Flecken sehen konnte. Die beiden Männer kamen und taten ihr Möglichstes, mich zu verdecken, während sie auf dem Weg nach draußen weiter plauderten, vorneweg Blitzlichter und Reporter. Szenenwechsel: Etwa 25 Jahre später stellte ich fest, daß ich bei einem Dinner zur Einweihung einer Ehrenhalle neben Alan Shepard saß. Er lächelte und fragte mich, was aus dem Kleid mit den Kaffeeflecken geworden war! Ich kriegte mich kaum ein, aber offenbar war es auch für ihn eine spaßige Erinnerung.

Ich hatte dank meines Alters das Glück, meinen Vater auf verschiedenen Reisen zu begleiten. Meine Mutter blieb immer mit meinen Schwestern zuhause, und ich fuhr nur allzu gern mit. Einmal fuhren wir nach Houston zum Johnson Space Center. Da kein Raketenstart anstand, konnten wir das Kontrollzentrum besichtigen, wo bei den Starts alle diese Männer sitzen und in höchster Anspannung ihre Hände wringen. Man gab uns eine private Führung der zugänglichen Bereiche. Alle kannten meinen Vater, und ich strahlte, daß ich mit ihm dort sein konnte!

Die Familie Ehricke in den USA Ende der 1950er Jahre. Krista Ehricke ist die älteste Tochter im Vordergrund.

Ein anderes Mal mußte mein Vater im Kongreß über Budgets und Kosten reden, und wir flogen zusammen nach Washington. Ich lief den ganzen Tag von einem Museum zu andern. Am nächsten Tag gingen wir zusammen ins Luft- und Raumfahrtmuseum. Ich hatte auch das Glück, mit ihm nach Orlando zum Kennedy Space Center zu fahren, wo ich den Start von Apollo 15 erleben konnte. Mein Vater sagte, David Scott sei ein großartiger Mensch, den er sehr achte. Das machte den Start noch interessanter. Ich konnte ihn nicht persönlich treffen, wir saßen natürlich eine Meile weit weg auf der Tribüne. Aber selbst noch in dieser Entfernung bebte die Erde mehr als bei jedem Erdbeben, das ich je erlebt habe, und der Himmel wurde hell und füllte sich mit Rauch. Das ist etwas, was man mit Sicherheit nie wieder vergißt!

Das nächste Mal war ich 1984 in Washington, um den Goddard-Preis des amerikanischen Weltrauminstituts (AIAA) für meinen Vater in Empfang zu nehmen, weil er zu krank war, um hinzufahren. Das war wenige Monate vor seinem Tod. Ich nahm die Auszeichnung an seiner Stelle an und konnte seine Dankbarkeit ausdrücken und für ihn zu der Gruppe sprechen. Das machte mich wieder sehr stolz.

Er war ein sehr gütiger Mensch, ich denke, das ist eine wichtige Eigenschaft. Er hatte emotionale Intelligenz. In Herzensangelegenheiten stand er immer zur Verfügung. Wenn man traurig oder schwermütig war, konnte man immer zu ihm kommen.

Wir verehrten unseren Vater, und das taten auch meine Freundinnen. Er tanzte mit uns zuhause bei Partys und erfand mit uns ungewöhnliche Tänze. Er blieb gerade so lange wie nötig und ging genau zur rechten Zeit. Meine Freunde fragten immer, ob er zuhause sei, um alle ihre Fragen zu beantworten. Er hatte die Fähigkeit, seine Antworten so zu vereinfachen, daß gewöhnliche Menschen sie verstanden, sogar meine Schulkameraden, und sie hatten immer das Gefühl, daß sie eine Perle der Weisheit bekamen, die andere nicht hatten. Das war der Zauber meines Vaters: Er konnte jedem alles erklären, solange, bis man es verstand, selbst wenn es die halbe Nacht dauerte!

Mein Vater hatte einen genialen Geist, was kein leichtes Kreuz zu tragen war, jedenfalls für mich. Ich konnte miterleben, wie sein visionärer Geist weit vordrang, an Orte, von denen wir anderen keine Ahnung hatten, und ich dachte, das muß doch belastend oder zumindest frustrierend sein. Einmal fragte ich ihn sehr nachdrücklich, wie er das schaffte, alles immer wieder zu wiederholen, wie er damit fertig wurde, wenn man ihm ständig sagte, seine Berechnungen oder fortschrittlichen Gedanken seien unmöglich – solange, bis andere das gleiche bewiesen. Daß man seine Entwürfe als albern abtat, wie das Skylab, das sie „Ehrickes Plumpsklo im All“ nannten. Ich habe seine Antwort nie vergessen. Er sagte sinngemäß: „Krista, mach dir um mich keine Sorgen, mir geht es gut. Weißt du, ich habe einen inneren Kern, hier mittendrin, der weiß ganz genau, wer ich bin, und weiß, ob ich recht habe oder nicht. Das ist mein Kern, den niemand jemals betreten kann und niemand mir wegnehmen kann, und dort spüre ich die Wahrheit, dort kann ich hingehen und bin geschützt. Das hat mich oft gerettet, und das wird niemals jemand durchbrechen.“ Er verstärkte das noch und sagte mir, ich solle dieses Refugium auch in mir selbst finden. Ich glaube, ich habe es gefunden. Das war seine persönliche Philosophie, die ihm durch alle Schwierigkeiten half, und es ist etwas, was ich nie vergessen habe.

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