Die „elektrodynamische Revolution“ von Gauß und Weber

[Auszüge aus der ersten Hälfte des Artikels]


Mitte des letzten Jahrhunderts haben Carl Gauss und Wilhelm Weber im Anschluss an die früheren Arbeiten André Marie Ampères eine Revolution in der Physik eingeleitet – eine Revolution, deren wirklicher Hintergrund und Inhalt jedoch der heutigen wissenschaftlichen Welt fast völlig unbekannt ist. Nicht nur hat das einheitliche Konzept elektrodynamischer Wirkung, das hinter Wilhelm Webers berühmtem Gesetz von 1846 steht, praktisch alle damals bekannten Erscheinungen der Elektrizität und des Magnetismus in sich vereinigt; wichtiger noch, Gauss und Weber haben zum ersten Mal einen streng abgeleiteten Weg aufgezeigt, um die experimentelle und theoretische Physik von der Körperwelt“ makroskopischer, sichtbarer Phänomene auf den mikroskopischen Bereich der Atomphysik zu erweitern. Webers Entdeckung einer aus der elektrodynamischen Wirkung selbst hervorgehenden kritischen Länge und kritischen Geschwindigkeit war in vielerlei Hinsicht ein bedeutender Vorläufer von Plancks revolutionärer Entdeckung ein Vierteljahrhundert später, während sie gleichzeitig in Form des berühmten Weber-Kohlrausch-Versuchs von 1856 die Grundlage für die elektromagnetische Theorie des Lichtes legte.

Gleichzeitig beschäftigte sich Webers Assistent Bernhard Riemann damit, ausgehend von Gauss‘ „antieuklidischer Geometrie“ und Webers elektrodynamischen Entdeckungen eine neue Basis für die Naturwissenschaften insgesamt zu schaffen. Riemanns Begriff einer sich durch ständige Entfaltung neuer Freiheitsgrade oder Dimensionalitäten entwickelnden Raumzeit-Mannigfaltigkeit übertrifft – als konzeptioneller Ansatz – alles, was seitdem in der theoretischen Physik versucht worden ist.

Es wäre keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Wissenschaft noch immer nicht den Anschluss an die volle Bedeutung dessen gefunden hat, was die Gauss-Weber-Schule vor mehr als einem Jahrhundert bereits erreicht hatte. Dennoch ist das, was Gauss und Weber leisteten, einschließlich ihrer bemerkenswerten Fortschritte in der Experimentaltechnik, eigentlich sehr einfach. Bei entsprechender Einweisung könnte dies ein begabter Gymnasiast verstehen. Die Forschungen von Ampère, Gauss und Weber würden sich bestens als zentraler Lehrstoff eines gymnasialen Physikkurses eignen. In einem solchen Kurs könnten Instrumente gebaut und eigenständige Versuche durchgeführt werden, um dann anhand einer geeigneten Auswahl von Urtexten einige der wichtigsten theoretischen Grundlagen der Physik zu vermitteln.

Aus diesen Gründen ist es eine erfreuliche Nachricht, dass die amerikanische Zeitschrift 21st Century Science and Technology Ende letzten Jahres einen ausführlichen Artikel über die Elektrodynamik von Wilhelm Weber mit dem Titel „Die Atomphysik, die man nicht in den Lehrbüchern findet“ veröffentlicht hat. Der Verfasser Larry Hecht versucht, die revolutionären Entdeckungen von Gauss, Weber u. a. wieder lebendig zu machen und gleichzeitig die Mythenbildung und Verwirrung auszumerzen, die sich der elektrodynamischen Lehre bemächtigt hat, seit sich Maxwell, Helmholtz, Clausius und andere Mitte des letzten Jahrhunderts zusammentaten, um die Physik von Gauss, Weber und Riemann zu unterdrücken.

Durch diesen Artikel und Gespräche mit Larry Hecht selbst fühlte ich mich zu dem Versuch angeregt, die Sache noch etwas zu vertiefen und in einen grösseren historischen und methodologischen Zusammenhang zu stellen. Der vorliegende Artikel stellt kein abgeschlossenes Ergebnis dar, sondern will den Leser zum Nachdenken und Weiterarbeiten anregen. Wir fangen nicht direkt bei Gauss und Weber an, sondern mit einem kurzen Abriss der vorhergehenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Elektrizität und des Magnetismus. Als erster tritt Benjamin Franklin auf die Bühne.

Von Franklin bis Ampère

Der „amerikanische Prometheus“ Benjamin Franklin war nicht zufällig der wichtigste Organisator der Amerikanischen Revolution und auch der berühmteste Wissenschaftler seiner Zeit, der Mann, der mehr als irgendjemand sonst die Erforschung von Elektrizität und Magnetismus weltweit in Schwung brachte. Jahrzehnte vor der amerikanischen Unabhängigkeit hatten Franklin und seine Verbündeten in England, Kreise, die noch aus Leibniz‘ Zusammenarbeit mit Jonathan Swift und anderen herstammten, dort die industrielle Revolution in Gang gesetzt.

Wie Briefe von Jonathan Logan und anderen aus Franklins Umfeld in Amerika bezeugen, stand Franklins Vorstellung von Elektrizität in bewusstem Gegensatz zu der „toten Materie“ der Newtonschen und Cartesischen Mechanik. Funken von Elektrizität – keine zufällige Metapher für das damalige Denken, mit dem sich die Entfesselung einer unermesslichen Energieform und Naturtransformation ankündigte – verbanden sich mit der Entwicklung von Hypothesen und Versuchsmethoden, um der Materie die „inneren Kräfte“ zu entlocken.

Ich möchte in aller Kürze einige der Höhepunkte dieser „elektrischen Revolution“ darstellen, die insbesondere zu Ampère hinführt.

Franklins Experimental Letters über Elektrizität, die den Zeitraum 1747–1755 erfassen, wurden die damals berühmteste wissenschaftliche Schrift und erschienen in allen wichtigen europäischen Sprachen. Ausschlaggebend für die sich anschließenden Entdeckungen war Franklins Hypothese von der engen Beziehung zwischen Elektrizität auf der einen Seite und der ganzen Vielfalt natürlicher Erscheinungen von der Astronomie über das Wetter, den Erdmagnetismus und andere magnetische Phänomene bis hin zur Chemie und der Organisation lebender Prozesse. Auch wenn Franklins Ideen im einzelnen manchmal nicht genau den Punkt trafen, war seine Erwartung einer allgemeinen Revolution im menschlichen Verstehen des Universums vollkommen zutreffend. Franklins „unitäre Theorie“ der Elektrizität, über die sich Generationen von Wissenschaftlern die Köpfe heiß redeten, bedeutete den Beginn einer ernsthaften theoretischen Debatte über das Wesen der Elektrizität.

Die Entwicklung „elektrischer Maschinen“ und anderer Geräte zur Erzeugung, Verstärkung und Speicherung (statischer) Elektrizität war bereits im Gang, als Franklin seine Forschungsarbeiten begann, erfuhr durch ihn aber eine erhebliche Beschleunigung. So entstanden die ersten elektrischen Kondensatoren in Form der „Kleistschen“ bzw. „Leydener Flasche“ und die „Franklinsche Tafel“. Elektrische Stromstösse, die mit Hilfe dieser Geräte erzeugt werden konnten, erreichten eine genügende Stärke, um eine Vielzahl makroskopischer chemischer und anderer Wirkungen zu erzeugen, die deutlich machten, dass sich eine „neue Dimension“ der technologischen Entwicklung eröffnete. Ein neuer Zweig der Wissenschaft zur Klärung der chemischen Zusammensetzung der Natur wuchs heran, indem die unterschiedlichen elektrischen Eigenschaften verschiedener Stoffe genau untersucht wurden.

Die nächsten großen Meilensteine waren ohne Frage die Entdeckung der „tierischen Elektrizität“ durch Galvani (1790) sowie Alessandro Voltas daran anschließenden Untersuchungen, die schrittweise zum Bau der ersten elektrischen Säulen (Batterien) in den ersten Monaten des Jahres 1800 führten. Innerhalb weniger Jahre entstand plötzlich ein völlig neuer Forschungsbereich über lebende Prozesse, ein neues Feld der Chemie (Elektrochemie) und eine offenbar neue Form der Elektrizität – das Phänomen elektrischer Dauerströme oder die „Volta-Elektrizität“.

Volta selbst entwickelte die Idee einer elektrochemischen Spannungsreihe, die bei der anschließenden Entwicklung der physikalischen Chemie eine entscheidende Rolle spielen sollte. Und auch Voltas Hypothese der „Kontakt“- oder „Berührungselektrizität“ im Gegensatz zu Faradays aus der „gewöhnlichen Chemie“ abgeleiteten Vorstellung der elektrischen Säule leitete eine umfassende und fruchtbare wissenschaftliche Debatte ein, die in gewisser Hinsicht noch immer die zentrale Frage der heutigen Elektrochemie ist.

Die Hauptrichtung, die zu den Arbeiten von Weber und Gauss führen, verläuft jedoch über die revolutionären Entdeckungen der „elektromagnetischen“ und „elektrodynamischen“ Wirkungen der „Volta-Elektrizität“ durch Hans Christian Örsted und André Marie Ampère. Zunächst müssen wir aber einige Worte zu dem Widerstand gegen diese Entwicklungen sagen, dessen Ursprung genauso politisch wie philosophisch war.

Mechanik versus Dynamik

In der Zwischenzeit hatte sich die mathematische Ausarbeitung der Mechanik weit über die groben Anfänge aus der Zeit Sarpis, Galileos, Descartes und Gassendis hinaus entwickelt, während gleichzeitig so peinliche Fehler, wie sie Leibniz bei Descartes aufgedeckt hatte, behoben wurden. Newton war bereits ein sehr viel geschickterer Mathematiker als Descartes. Aber es waren insbesondere Leonhard Euler und die unmittelbar nach ihm wirkenden Lagrange und Laplace, die die erfolgreichste formal-mathematische Grundlage für die Cartesische („Kontinuum“) und die Gassendi-Newtonsche (vulgär-atomistische) Version der Mechanik schufen. Die Weiterentwicklung der Leibnizschen Integral- und Differentialrechnung durch die Bernouillis und andere war für Eulers Schaffen zwar unverzichtbar, doch Euler selbst war ein fanatischer Antileibnizianer. Eulers rüde Attacken gegen Leibniz‘ Physikkonzept, wie sie sich in seinen berühmten „Briefen an eine deutsche Prinzessin“ finden, gehören zu den mit am meisten publizierten und einflussreichsten wissenschaftlichen Schriften der Geschichte und erlebten insgesamt 111 Auflagen in allen wichtigen europäischen Sprachen.

Den letzten Schliff erhielt Eulers Mechanik durch Lagrange, der die von Euler noch benutzten verbliebenen Elemente des Leibnizschen Kalkulus durch rein formale algebraische Manipulationen ersetzte. In der Einleitung zu seiner Mécanique analytique (1788) verkündete Lagrange triumphal:

„Keine geometrischen Diagramme werden sich in diesem Werk finden; die Methoden, die ich darstelle, erfordern weder Konstruktionen noch geometrische oder mechanische Überlegungen, sondern nur auf regelmäßige und einheitliche Weise durchgeführte algebraische Operationen. Wer die mathematische Analyse liebt, wird mit Freude sehen, wie die Mechanik zu einer ihrer Zweige gemacht worden ist, und wird mir dankbar sein, den Bereich (der Mathematik) auf diese Weise erweitert zu haben.“

Damit hatte die Euler-Lagrangesche „analytische Mechanik“ einen unerreichten Höhepunkt der Perfektion erreicht, von Auguste Comte und Ernst Mach als das Modell positivistischer Wissenschaft bewundert. Abgesehen von einem möglichen Nutzen für technische Berechnungen und ähnliche Zwecke war die Euler-Lagrange-Mechanik für Zwecke der fundamentalen wissenschaftlichen Entdeckung nicht geeignet. An die Stelle des Denkens waren formale Rechenoperationen getreten, und das glänzende formalistische Äußere bot weder den Anstoss noch die Möglichkeit, tiefer in die physikalischen Grundlagen der sogenannten mechanischen Erscheinungen selbst einzudringen.

Obgleich sich der Euler-Lagrange-Formalismus als ein großer Schritt nach vorne darzustellen schien, erwies er sich immer mehr als ideale Möglichkeit, den wissenschaftlichen Entdeckungsgeist wieder zurück in die mathematische Flasche zu bannen. Glücklicherweise hatte jedoch die rasante Entwicklung der Elektrizität eine Vielzahl neuer Forschungsmöglichkeiten völlig außerhalb des selbstbeschränkten Bereichs der Mechanik eröffnet. Tatsächlich waren die revolutionären Entwicklungen der Elektrizität und des Magnetismus im 18. Jahrhundert fast ausschließlich das Ergebnis experimenteller Arbeiten, die mit wenig oder gar keinem formal-mathematischen Beiwerk auskamen.

Die antileibnizsche Schule, in Frankreich angeführt von Simon Laplace, versuchte indes, einen Weg zu finden, um die Erscheinungen der Elektrizität in eine mechanistische mathematische Theorie hineinzuzwängen.

Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung machte Auguste Coulomb, der 1785 eine an Newtons Gravitationsgesetz ausgerichtete Theorie der Elektrizität vorlegte. Coulombs Theorie gründete auf der Hypothese zweier positiver und negativer „elektrischer Teilchenarten“, wobei sich gleiche Ladungen abstießen und ungleiche Ladungen anziehen sollten, und zwar mit einer Kraft, die dem Produkt der Ladungen und dem umgekehrten Quadrat der Entfernung zwischen den Teilchen proportional wäre. Coulomb untermauerte seine Theorie mit einer berühmten Messreihe, in der er die Kräfte zwischen kleinen geladenen Kugeln bestimmte und dazu eine sogenannte Torsionswaage benutzte. In diesem Instrument ist eines der geladenen Objekte unbeweglich, während das andere an einem drehbaren Stab befestigt ist, welcher an einem Faden hängt, und zwar so, dass die Kraft zwischen den geladenen Körpern gegen die Torsions-(Dreh-)kraft des elastischen Fadens wirken muss. In gewisser Weise war dieses Instrument ein Vorläufer des Messinstrumentes von Gauss und Weber, hatte aber einige grundlegende Unterschiede.

Die mathematische Ausarbeitung der Coulombschen Theorie führte als erster Poisson 1811 auf der Grundlage einer „Potentialtheorie“ für die Newtonsche Gravitation aus, welche Laplace 1782 entwickelt hatte. Später aber revolutionierte Gauss diesen ganzen Bereich mit seinen Allgemeinen Aufsätzen in Beziehung auf die im verkehrten Verhältnisse des Quadrats der Entfernung wirkenden Anziehungs- und Abstossungskräfte von 1839, worin er die entscheidende Rolle der Unstetigkeiten (Diskontinuitäten) aufbrachte.

Am wichtigsten für unsere Diskussion hier ist jedoch die schon von Benjamin Franklin aufgeworfene Frage nach der Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus. Die Laplace-Schule bezog in diesem Zusammenhang eine überaus dogmatische Position gegen jegliche solche Beziehung. Vielmehr wollte Laplace den Magnetismus dadurch „erklären“, dass er zwei weitere Teilchenarten einführte, von denen jedes einem Pol des Magneten entsprechen und einem Kraftgesetz gehorchen sollte, ähnlich dem, wie es Coulomb für die statische Elektrizität aufgestellt hatte.

Wiederholt ist das Argument aufgetaucht, dass die starken Vorbehalte der Laplaceschen Schule gegen die Vorstellung einer engen Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus der Hauptgrund dafür war, dass ein so langer Zeitraum zwischen Voltas erster elektrischer Batterie 1800 und dem erstmaligen eindeutigen Beweis der magnetischen Wirkung elektrischer Ströme 1820 durch den dänischen Physiker H. C. Örsted verstrich. Fest steht indes, dass Örsted die Newtonschen Ansichten von Laplace u. a. entschieden ablehnte. Lange bevor Örsted die Wirkung eines nahe einer Kompassnadel verlaufenden stromdurchflossenen Drahtes beobachtete, hatte er wiederholt seine Erwartung geäußert, dass eines Tages eine magnetische Wirkung von Strömen entdeckt werden würde.

Nun war der Boden bereitet für einen „Ausbruch“ neuer Entdeckungen vor allem in Zusammenhang mit den außergewöhnlichen Forschungsarbeiten des autodidaktischen französischen Physikers und Philosophen André Marie Ampère.

Ampères revolutionäre Versuche

Nur wenige Monate, nachdem Arago in Paris Örsteds Ergebnisse bekannt gemacht hatte, stürzte sich der junge Franzose André Marie Ampère auf diese Sache und machte daraus einen eigenen umfangreichen neuen Forschungsbereich. Ampère versuchte zunächst die geometrischen Merkmale der von Örsted gezeigten elektromagnetischen Wirkung zu verstehen und machte dann den entscheidenden Schritt, indem er die Magnetnadel in Örsteds Versuch durch einen stromdurchflossenen beweglichen Leiter ersetzte. Damit entstand neben dem von Örsted nachgewiesenen „elektromagnetischen“ Effekt eine von Ampère später so bezeichnete „elektrodynamische“ Wirkung von Strömen aufeinander. Der Umstand, dass Ampère in einer außerordentlichen Fülle interessanter Experimente die Wechselwirkung elektrischer Ströme demonstrieren konnte, bedeutete einen schweren Schlag für die Laplacesche Schule. Nach Inaugenscheinnahme einiger der elektromagnetischen und elektrodynamischen Geräte, die in Ampères Haus in Polymieux nahe Lyon ausgestellt sind, stand für den Autor dieses Artikels außer Zweifel: Ampère hatte eindeutig erkannt, dass die Erscheinungen der Elektrizität und des Magnetismus eine tiefere Raumzeit-Geometrie ausdrückt, die mit den Annahmen hinter der mechanischen Physik der Newtonschen oder Cartesischen Richtung völlig unvereinbar ist. Ampère mag dies nicht auf diese Weise ausgedrückt haben, aber genau das war seine Idee; und genau diese Schlussfolgerung zog explizit Riemann (und etwas geheimtuerischer auch Gauss), nachdem Wilhelm Weber zwischen 1837 und 1846 Ampères Ideen so nachdrücklich bestätigt hatte. …

Ich kann die Fülle von Ampères Ideen und Versuchen hier nicht im einzelnen darstellen. Von zentraler Wichtigkeit war jedoch seine direkt zu Gauss und Weber überleitende Hypothese von der Austauschbarkeit des Magnetismus mit den elektrodynamischen Wirkungen elektrischer Ströme. …

Im Zusammenhang dieser Überlegungen und provoziert durch die Angriffe Faradays und anderer sah sich Ampère veranlasst, die Wechselwirkung zweier oder mehrerer elektrischer Ströme als Funktion ihrer räumlichen Ausrichtung sehr viel gründlicher zu untersuchen. Er fasste die Ergebnisse dieser Studien in einer berühmten Formel zusammen, gemeinhin bekannt als das „Ampèresche Kraftgesetz“, das er erstmals 1827 veröffentlichte. Die mathematischen Einzelheiten sollen uns hier weniger interessieren, auch wenn sie Gegenstand heftiger Kontroversen sind. Ich möchte hier nur kurz einige wesentliche Aspekte dieses „Gesetzes“ anführen.

Wenn man die Wechselwirkung zweier beliebiger Ströme betrachtet, bestehen die „Variablen“ in ihrer Form und gegenseitigen Ausrichtung sowie der jeweiligen Richtung und Stärke des Stromflusses. Um die unendliche Vielfalt räumlicher Formen auf eine möglichst einfache Beziehung zu reduzieren, verlegte sich Ampère darauf, jeden der Ströme in eine Unzahl mikroskopischer „Stromelemente“ aufgeteilt zu behandeln, jedes als ein sehr kurzes, nahezu geradliniges Segment gedacht. Als Arbeitshypothese ging er dann von der Annahme aus, dass sich die auftretende Kraft zwischen zwei Leitern als Gesamtsumme der Kräfte ausdrücken ließe, die hypothetisch zwischen jeglichen denkbaren Stromelementepaaren existieren würden, welche die aufeinander einwirkenden Ströme bilden. Ampère stellte die weitere Vermutung auf, dass die Kraft zwischen jeden zwei Stromelementen auf der Linie zwischen ihren Mittelpunkten die Form der Anziehung oder Abstossung hätte und dass die Grösse und das Vorzeichen der Kraft zwischen solchen Elementen unabhängig vom übrigen Stromweg sei und nur von der Stromstärke, der Richtung und der relativen räumlichen Ausrichtung der Stromelemente selbst abhinge. Letztere ließe sich als Entfernung zwischen den Mittelpunkten der Stromelemente und den Winkelbeziehungen der drei Raumrichtungen ausdrücken: den Achsen jedes der Stromelemente und der Richtung der Linie, die ihre Mittelpunkte verbindet.

Dann stellte Ampère die Frage: Welche Form muss die Beziehung der hypothetischen Kraft zwischen zwei Stromelementen als Funktion ihrer Entfernung, Stromrichtung und -stärke sowie räumlichen Ausrichtung haben, um die beobachteten Wechselwirkungen der elektrischen Ströme zu erfassen? Der hypothetische Charakter von Ampères Frage ist auffällig: Denn tatsächlich hatte niemand jemals eine Wechselwirkung zwischen isolierten „infinitesimalen Stromelementen“ beobachtet. Das Problem bestand darin, allein von makroskopischen Beobachtungen und sogar nur von Beobachtungen geschlossener Stromkreisläufe ein hypothetisches Gesetz für eine hypothetische Wechselwirkung auf mikroskopischer Ebene abzuleiten. Ampère kam schließlich zu folgendem Schluss: Wenn wir annehmen, dass die fragliche funktionale Abhängigkeit eine bestimmte recht allgemeine mathematische Form hat, dann gibt es nur eine, genau bestimmte Formel für diese Abhängigkeit, die mit der Gesamtheit der Versuchsergebnisse wie auch mit der allgemeinen Hypothese der Äquivalenz des Magnetismus mit der Wirkung elektrischer Ströme vereinbar ist.

Um genau diesen Punkt drehte sich ein Briefwechsel zwischen Gauss und Weber im Winter 1845, etwa 18 Jahre später. Weber, der gerade in einer Reihe extrem präziser Messungen die quantitativen Voraussagen der Ampèreschen Formel bestätigt hatte, äußerte Zweifel an einem Glied in der Formel, wofür nach Webers Auffassung die bestehende experimentelle Basis zu schwach sei. In seiner Antwort bemerkte Gauss zunächst, dass er sich zwar „vor etwa 10 Jahren“, „sehr ausgedehnt“ mit Ampères Gesetz beschäftigt hätte. Inzwischen habe er sich aber ganz anderen Dingen zugewandt und hätte die früheren Untersuchungen nicht mehr im Kopf.

Er fährt allerdings fort:

„Ich kann Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie die Versuche von Ampère für nicht sehr concludent erklären, zumal, da ich Ampères klassische Abhandlung nicht zur Hand und die Art seiner Versuche gar nicht im Gedächtnis habe, indessen glaube ich doch nicht, dass Ampère, auch wenn er die Unvollkommenheit seiner Versuche selbst einräumte, die Befugnis, eine ganz andere Formel (I), womit seine ganze Theorie zerfiele, zu adoptiren zugeben würde, so lange nicht diese andere Formel durch ganz entscheidende Versuche befestigt wäre. Die Bedenken, die ich selbst Ihrem zweiten Briefe zufolge, geäußert habe, müssen von Ihnen missverstanden sein. Ich habe früh die Überzeugung gewonnen und festgehalten, dass die oben erwähnte Vertauschbarkeit notwendig die Ampèresche Formel II erfordert und keine andere zulässt, die nicht mit jener, für einen geschlossenen Strom identisch wird, wenn die Wirkung in der Richtung der die beiden Stromelemente verbindenden geraden Linie geschehen soll, dass man aber allerdings unzählige andere Formen wählen kann, wenn man die eben ausgesprochene Bedingung verlässt, die aber für einen geschlossenen Strom immer dasselbe Endresultat geben müssen wie Ampères Formel. Man könnte übrigens auch noch hinzufügen, dass da es bei jenen Zwecken immer nur um Wirkungen in messbaren Entfernungen sich handelt, nichts uns hindern würde, vorauszusetzen, dass auch noch möglicherweise andere Theile zu der Formel hinzukommen mögen, die nur in unmessbar kleinen Entfernungen wirksam sind (wie die Molecularattraction zu der Gravitation hinzutritt), und dass dadurch die Schwierigkeit des Abstossens zweier auf einander folgender Elemente desselben Stroms beseitigt werden könnte.“

Und Gauss fügt folgende erstaunliche Bemerkung hinzu:

„Ich würde ohne Zweifel meine Untersuchungen längst bekannt gemacht haben, hätte nicht zu der Zeit, wo ich sie abbrach, das gefehlt, was ich wie den eigentlichen Schlussstein betrachtet hatte

Nil actum reputans si quid superesset agendum

[Diskussionen führen zu nichts, wenn noch Arbeit zu tun übrig bleibt.] nämlich die Ableitung der Zusatzkräfte (die zu der gegenseitigen Wirkung ruhender Electricitätstheile noch hinzukommen, wenn sie in gegenseitiger Bewegung sind) aus der nicht instantaneen, sondern (auf ähnliche Weise wie beim Licht) in der Zeit sich fortpflanzenden Wirkung. Mir hatte dies damals nicht gelingen wollen; ich verließ aber, so viel ich mich erinnere, die Untersuchung damals doch nicht ganz ohne Hoffnung, dass dies später gelingen könnte, obwohl – erinnere ich mich recht – mit der subjektiven Überzeugung, dass es vorher nötig sei, sich von der Art, wie die Fortpflanzung geschieht, eine construirbare Vorstellung zu machen.“

Gauss und Weber

Selten wurde in so wenigen Worten soviel Bedeutsames für die wissenschaftliche Methode ausgedrückt. Mit seiner für ihn typischen absoluten Strenge im Denken bei gleichzeitiger Bereitschaft, auch die gewagtesten Hypothesen zu berücksichtigen, machte Gauss mit seinem Eingreifen an entscheidender Stelle aus den sicherlich wertvollen Versuchsergebnissen seines Freundes Weber eine wissenschaftliche Revolution. Tatsächlich schien Gauss zwischen 1827 und Webers Ende der 30er Jahre beginnenden Untersuchungen der einzige gewesen zu sein, der der tieferen Bedeutung der Ampèreschen Arbeiten entsprechende Aufmerksamkeit schenkte. Allerdings wurde Gauss‘ Beschäftigung mit Ampères Gesetz, auf die er in seinem Brief an Weber anspielt, erst nach seinem Tod veröffentlicht. Bevor wir die außergewöhnlichen Arbeiten besprechen wollen, die Weber – großenteils dank Gauss‘ Eingreifen – zwischen 1845 und 1871 durchführte, muss ich kurz auf die Arbeiten von Gauss und Weber eingehen, die diesen Entdeckungen vorausgingen.

Ausschlaggebend für die ungeheuren Fortschritte, die Gauss und Weber über Ampère hinaus machten, war die neue experimentelle Methode, die sie in die Naturwissenschaften insgesamt einbrachten. Dies kommt am besten in einer Gauss zugeschriebenen Formulierung zum Ausdruck, nämlich „die Präzision astronomischer Messungen auf die Physik insgesamt zu übertragen“.

Gauss‘ Äußerung enthält weit mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Einerseits hatte die von Wissenschaftlern wie Fraunhofer, Bessel u. a. vorangetriebene Entwicklung der Optik und Feinmechanik den Bau von Fernrohren und anderen optischen Instrumenten ermöglicht, deren Präzision und Auflösung allen bisherigen Instrumenten weit überlegen waren. Dies galt insbesondere für das elementarste, aber zentralste technische Problem der Astronomie und Optik, die sehr genaue Messung von Winkeln. Als hervorragender Astronom und Direktor des Observatoriums der Göttinger Universität stand Gauss inmitten dieser Entwicklungen.

Gauss hatte ausgehend von seinen großartigen Erkenntnissen über „antieuklidische Geometrie“ klar die allgemeine Bedeutung der Winkelmessung für die gesamte Experimentalwissenschaft erkannt. Praktisch jede quantitative Messung, die der Mensch vornehmen kann, läuft letztlich auf Winkelmessungen hinaus. Auf diese Weise messen wir in der Astronomie die Bewegungen der Sterne oder Planeten oder bestimmen die Winkel zwischen Erdpunkten bei der geodätischen Vermessung der Erdoberfläche oder beobachten bei den von Gauss und Weber entwickelten elektromagnetischen Instrumenten winzige, durch äußere Einflüsse hervorgerufene Winkeldrehungen eines aufgehängten Magneten oder einer aufgehängten Spule usw. Eine wirkliche physikalische Messung besteht aber nicht nur aus einer, sondern stets aus mehreren Beobachtungen. Die geistige Aufgabe des Physikers besteht allgemein gesagt darin, „das Eine im Vielen“ zu begreifen, d. h. die physikalische Geometrie, die einer bestimmten Messreihe zugrundeliegt. Gauss erkannte, dass dieser Vorgang des Begreifens sogar auf die Vorstellung des Raumbegriffs selbst zutrifft. Anders gesagt, wir sollten hinsichtlich der Geometrie des Raumes dem Erfassen des „Einen“, der physikalischen Wirklichkeit hinter unseren Messungen, keine Apriori-Annahmen überstülpen.

Typisch an Gauss‘ Methode war, die elementarsten und oft sehr praktische Probleme als Ausgangspunkt zu wählen, um theoretische Vorstellungen erstaunlicher Allgemeingültigkeit zu entwickeln. Gauss gelangte so zu seiner allgemeinen Geometrielehre ausgehend von dem Sonderfall gekrümmter Flächen; doch diese Arbeit, aus der seine berühmten Disquisiones generales circa superficies curvas hervorgingen, gründete sich wiederum auf Ideen, die Gauss in Zusammenhang mit der Vermessung des Königreiches Hannover gesammelt und bestätigt hatte. Diese Aufgabe nahm Gauss‘ Zeit und Energie fast die gesamten 20er Jahre des letzten Jahrhunderts in Anspruch. Sie erforderte nicht nur Feldvermessungen – wofür Gauss seine eigene glänzende Erfindung, den Heliotrop, als starke Lichtquelle zum Visieren einsetzte –, sondern auch eine ungeheure Rechenarbeit. Um die genauest möglichen Schlüsse aus seinen Winkelmessungen zu ziehen, vervollkommnete Gauss seine „Theorie der Kombination von Beobachtungen“, auch bekannt als die „Methode der kleinsten Quadrate“, die er zuvor mit großem Erfolg zur Bestimmung des Bahnverlaufs des Asteroiden Ceres eingesetzt hatte.

So wie Gauss es sah, ist die Geodäsie der Sonderfall eines allgemeinen Problems von zentraler Bedeutung. Zumindest bis zur Ära der Satelliten und der Raumfahrt unserer Tage hatte kein menschliches Auge je die Erdkrümmung direkt gesehen, noch gab es einen Weg, die genaue Form der Erdoberfläche auf direkte Weise zu bestimmen. Vielmehr musste die Erdform aus der Kombination einer Vielzahl von lokal auf der Erde vorgenommenen Messungen abgeleitet werden. Hierfür konstruiert sich der Geodät ein Netz von Dreiecken in Form einer geeigneten Reihe von Beobachtungspunkten (Kirchtürme, Berggipfel usw.) und misst die Winkel dieser Dreiecke mit größtmöglicher Genauigkeit. Solche Beobachtungen müssen mit astronomischen Messungen verglichen werden, wofür z. T. auch präzise Zeitmessungen erforderlich sind. Nur mit Hilfe einer genau durchdachten Auswahl solcher Beobachtungen konnten die Geodäten die abgeflachte Kugelform der Erde mit erstaunlicher Genauigkeit bestimmen.

Dabei stellt sich folgendes allgemeine Problem: Wie kann man die makroskopische „Gestalt“ einer Mannigfaltigkeit (einer Fläche oder eines Bereichs der physikalischen Raumzeit) aus Messungen bestimmen, die im Verhältnis dazu nur auf „mikroskopischem“ Maßstab ausgeführt werden können? Bei der Geodäsie ist der Teil der Erdoberfläche, die der Geodät zum jeweiligen Zeitpunkt sehen kann, „infinitesimal“ im Vergleich mit der Erde insgesamt. Gauss‘ berühmte Disquisiones generales waren eine Untersuchung dieser Art Problem angewandt auf eine „willkürliche“ zweidimensionale Fläche. Aber stets im Hintergrund dieser Untersuchungen sah Gauss die grössere Frage, wie sich die Geometrie des Universums oder zumindest eines astronomisch bedeutenden Teils davon bestimmen ließe.

Nicht minder interessant ist es jedoch, den Weg des Fortschreitens vom Kleinen zum Großen umzukehren, und die Frage zu stellen: Wie lassen sich die physikalischen Prozesse des Universums auf mikroskopischer („atomarer“) Ebene auf der Grundlage von Messungen bestimmen, die auf dem sichtbaren Maßstab des Laborphysikers gewonnen wurden? In gewisser Weise hat Wilhelm Weber genau das getan, als er mit Hilfe elektrodynamischer Instrumente „die Präzision der Astronomie“ einsetzte, um weitreichende Hypothesen über die atomare und subatomare Zusammensetzung der Materie abzuleiten.

Die bemerkenswerten Fortschritte im Instrumentenbau, die Webers Entdeckungen von 1845-1871 erst ermöglichten, waren großenteils die Frucht der engen Zusammenarbeit zwischen Gauss und Weber, insbesondere von 1831 bis Webers Weggang aus Göttingen 1843. Nicht zufällig stand diese Zusammenarbeit im Mittelpunkt einer der größten internationalen wissenschaftlichen Verschwörungen aller Zeiten – dem Magnetischen Verein.

Die Idee, Messungen des Erdmagnetismus an vielen Orten der Welt gleichzeitig vorzunehmen, geht wahrscheinlich bis auf Leibniz zurück, der den russischen Zaren Peter den Großen gedrängt hatte, in seinem Reichsgebiet ein Netz magnetischer Messstationen einzurichten. Schon damals war bekannt, dass eine Kompassnadel ihre Richtung mit der Zeit ändert, eine Erscheinung, die viele Geheimnisse der Natur zu lüften versprach. Alexander von Humboldts Freund François Arago, der die Tradition der französischen Ecole Polytechnique hochhielt und einer der wichtigsten Förderer der Ampèreschen Forschungen war, organisierte Anfang der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts gleichzeitige Messungen der Magnetabweichung zwischen Paris, Berlin und Kasan. 1829 schlug Humboldt vor, dieses Verfahren auf andere Orte auszudehnen. Im gleichen Jahr reiste Humboldt nach Russland, nahm dort selbst magnetische Messungen vor und überzeugte die (nach dem Plan von Leibniz errichtete) St. Petersburger Akademie der Wissenschaften von dem Plan, magnetische und meteorologische Beobachtungsstationen im gesamten europäischen und asiatischen Teil Russlands zu errichten.

Bereits im September 1828, als Gauss anlässlich einer wissenschaftlichen Konferenz in Berlin sein Hausgast war, gelang es Alexander von Humboldt, Gauss‘ Interesse an magnetischen Untersuchungen zu wecken. Diese Idee, aus der später der Magnetische Verein hervorgehen sollte, spielte eine wesentliche Rolle bei der Berufung Wilhelm Webers nach Göttingen 1831, bei der Humboldt helfend mitwirkte. Es sollte nicht überraschen, dass die Untersuchung des Erdmagnetismus zum Mittelpunkt der theoretischen und experimentalwissenschaftlichen Entwicklung wurde, welche die Elektrodynamik revolutionierte. Man erinnere sich, dass auch Ampère durch seine Hypothese vom Ursprung des Erdmagnetismus dazu angeregt wurde, das allgemeine Gesetz der Wechselwirkung von Strömen aufzustellen und Ausgangspunkt für Webers Entdeckungen der Jahre 1845-71 war.

1832 erschien Gauss‘ klassische Abhandlung Intensitas vis magneticae terrestris ad mesuram absolutam revocata (Die Stärke des Erdmagnetismus auf absolute Messungen reduziert), die praktisch das Fundament für alle späteren Entwicklungen war. Wir können hier diese schwierige Materie nicht im einzelnen darstellen, sondern nur das Wesen des Problems und Gauss‘ Lösung anreißen.

Bis zu Gauss‘ Arbeit von 1832 waren Präzision und Zuverlässigkeit der für magnetische Beobachtungen verwendeten Verfahren recht begrenzt, was teilweise mit den Eigenschaften der eingesetzten Instrumente selbst zu tun hatte. Als Beispiel sei nur eine Methode angeführt, mit der Alexander von Humboldt die Stärke der horizontalen Komponente des Magnetfeldes bestimmte: Eine Magnetnadel oder -stab ist so angebracht, dass sie sich frei in horizontaler Ebene drehen kann. Sich selbst überlassen, wird die Nadel natürlicherweise in die Richtung des magnetischen Meridians weisen. Wenn man nun die Nadel kurz anstösst, schwingt sie um ihre ursprüngliche Position hin und her. Es ist leicht ersichtlich, dass die Schwingungsperiode von der Stärke der auf die Nadel einwirkenden magnetischen Kraft und von ihrem Drehmoment abhängig ist. Wenn letzteres bekannt ist, lässt sich aus der Schwingungsperiode der Nadel die Magnetstärke berechnen.

Wenn man jedoch eine solche Methode benutzt, um Veränderungen im Erdmagnetfeld zu beobachten, darf man eine wichtige Variable des Instruments selbst nicht übersehen: Die magnetische Stärke der Nadel, die sich mit der Zeit und insbesondere als Funktion der Temperatur u. ä. deutlich verändern kann. Infolgedessen ergeben sich rein „relative“ Messergebnisse. Außerdem lassen sich die Beobachtungsergebnisse an zwei verschiedenen Orten nicht miteinander vergleichen, solange es nicht möglich ist, die Instrumente zu „eichen“, entweder durch direkten Vergleich ihrer Messungen an gleichem Ort und zu gleicher Zeit oder durch andere Verfahren.

In seiner Abhandlung stellte Gauss eine Methode vor, die die erwähnte Fehlerquelle vollkommen ausschaltet. Die Parameter des Erdmagnetismus lassen sich auf diese Weise durch „absolute Messungen“ bestimmen. Gauss‘ Methode zeichnete sich dadurch aus, dass sie mehrere Beobachtungen kombinierte, indem ein zweiter Magnet in das von Alexander von Humboldt verwendete Verfahren eingeführt wurde. Wie zuvor wurde die Schwingungsperiode des aufgehängten Magneten unter dem Einfluss des Erdmagnetismus gemessen. Doch zusätzlich wird eine separate Beobachtungsreihe durchgeführt, indem der gleiche Magnet, der für die Schwingungsmessungen verwendet wurde, jetzt einen zweiten Magneten ablenkt. Dafür werden die zwei Magnete in verschiedenen Entfernungen und Positionen zueinander angebracht. Die für dieses Verfahren günstigsten Positionen wurden in der magnetischen Forschung als „Gausssche Lagen“ bekannt. Wichtig hierbei ist, dass das magnetische Moment des ersten Magneten (K) bei der Einwirkung auf den zweiten Magneten mit dem Einfluss des Erdmagnetismus (H) konkurriert; der sich daraus ergebende Winkel ist eine Funktion, die von der relativen Position der Magnete und von dem Verhältnis K/H der Magnetstärken abhängt. (Die Stärke des zweiten Magneten, ein gleichbleibender Faktor in beiden Wechselwirkungen, hebt sich auf und braucht nicht bekannt zu sein.) Wenn andererseits der erste Magnet aufgehängt ist und im erdmagnetischen Feld schwingt, ist die Schwingungsperiode eine Funktion des Produkts KH. Gauss zeigte, wie man ausgehend von einer entsprechenden Beobachtungsreihe der Schwingungen und Ablenkungen K ‧ H und K⁄H ableiten kann. Daraus erhält man leicht sowohl K wie auch den gewünschten Parameter H, nämlich die horizontale Stärke des erdmagnetischen Feldes zu der gegebenen Zeit und an dem gegebenen Ort. Ähnliche Prinzipien gelten für die Bestimmung der anderen „Elemente“ des Erdmagnetismus, d. h. die genaue räumliche Ausrichtung und die Gesamtstärke.

Für die genaue Feststellung der Ablenkung eines drehbaren Magneten führte Gauss die Methode der „Spiegelablesung“ ein. Diese bestand darin, dass ein kleiner Spiegel an dem Magneten befestigt wurde und das reflektierte Bild einer genau geeichten Skala mit Hilfe eines Fernrohrs mit Fadenkreuz abgelesen wurde. Diese Methode war zwar unabhängig von Gauss schon von Poggendorff erwähnt und angeblich viel früher schon von Prony benutzt worden, doch erst Gauss‘ und Webers meisterhafte Anwendung auf eine Vielzahl von Messungen führte zu ihrer weiten Verbreitung.

1837 entwickelte Gauss ein weiteres wichtiges Verfahren zur Messung des erdmagnetischen Feldes. Die Methode zur Messung horizontaler Feldstärken mit Hilfe eines schwingenden Magneten hatte den großen Nachteil, beträchtliche Zeit in Anspruch zu nehmen. Solche Messungen waren nur akzeptabel, wenn man lediglich einen Mittelwert über einen bestimmten Zeitraum ermitteln wollte. Aber um schnelle Veränderungen zu beobachten, die sich innerhalb von einer Minute oder weniger abspielen, war eine andere Methode erforderlich. Anstatt den Magneten nur an einem Faden aufzuhängen (Unifilarmagnetometer), hängte Gauss den Magneten an zwei in geringem Abstand und ursprünglich parallel verlaufenden dünnen Drähten auf. Wenn sich der Magnet dreht, schwenken auch die Drähte leicht aus der Vertikalen heraus, und der Magnet wird geringfügig angehoben. Auf diese Weise wirkt nicht mehr die Torsion eines Fadens der Drehung des Magneten entgegen, sondern nur die Schwerkraft, die messbar und an jedem gegebenen Ort im wesentlichen konstant ist. Außerdem hat diese bifilare Aufhängung eine extrem niedrige Reibung.

Die bifilare Aufhängung sollte eine entscheidende Rolle bei Webers Entdeckungen spielen, die zur Aufstellung seines „Grundgesetzes der Elektrizität“ und seinem kühnen Vorstoss in die Atomphysik führten…

[Der Rest des Artikels und die dazugehörigen Abbildungen nur im gedruckten Heft verfügbar]

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