Eine Vision für die Fortsetzung der Messina-Brücke nach Afrika mit „TUNeIT“
Enzo Siviero ist Professor an der Universität Venedig und Vizepräsident des Nationalen Universitätsrats Italiens (CUN). Er hielt die folgende Rede auf der Konferenz zum 30-jährigen Bestehens des Schiller-Instituts am 18. Oktober 2014 in Frankfurt am Main. Der Vortrag wurde aus dem Italienischen übersetzt.

Das Mare Nostrum (unser Meer), wie schon die römischen Eroberer das Mittelmeer nannten, bildete jahrhundertelang den einzigen Durchgang und Zugang der wichtigsten Handelsrouten. In der Funktion als Knoten der internationalen Schifffahrt verkörperte es den Wohlstand und Reichtum des gesamten von dem Meer umspülten Gebietes, und gleichzeitig diente es als verbindendes und zusammenhaltendes Element des gesamten Territoriums. Diese Plattform für Austausch und Mobilität an der afrikanischen wie an der europäischen Küste war der Beginn der großartigen Geschichte der mediterranen Zivilisation, die auf der Kultur und auf dem Austausch von Gütern und Ideen beruhte (Abbildung 1).

Später, im Mittelalter, wuchs die Bedeutung des Mare Nostrum, als die Seerepubliken fünf Jahrhunderte lang den Handelsverkehr beherrschten und damit die Nord-Süd- wie die Ost-West-Verbindungen unter ihre Kontrolle brachten.
Ab dem 16. Jahrhundert verlor das Mittelmeer durch die Entdeckung der atlantischen Schifffahrtsrouten seine zentrale Bedeutung. Das Transportsystem verlagerte sich nach Nordwesten, und die Küstenstaaten am Atlantischen Ozean stiegen für die folgenden drei Jahrhunderte zu den Hauptakteuren der neuzeitlichen Geschichte auf.
Afrika und der Nahe Osten erlebten die Kolonialzeit, und Italien, das damals aus vielen Kleinstaaten bestand, spielte lange Zeit in Handel und Politik in diesem Teil der Erde nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber neue Herausforderungen haben den menschlichen Intellekt immer wieder angeregt, neue, große Bauwerke zu schaffen, um durch neu ersonnene Transportkorridore internationale Verbindungen herzustellen. Eines davon war der Suezkanal 1869, der den Schiffsverkehr von Europa nach Asien ermöglichte, ohne Afrikas Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen (Abbildung 2).

Ebenso machten es vor einem Jahrhundert die Alpenuntertunnelung möglich, neue Szenarien zu entwickeln. Sie veränderte die europäische Verkehrsdynamik, stellte die Nationen vor hohe Herausforderungen der Ingenieurskunst und definierte die territorialen Beziehungen in Mitteleuropa neu. Die italienische Tradition in Konstruktion, Bau und des Handwerks, fehlende in vorhandene Verbindungen zu verwandeln, erstrahlte in neuem Glanz.
Was aber sollte nun die Rolle des Mittelmeers als System für die Entwicklung der Anrainergebiete sein? Wenn man die Italienische Halbinsel durch den Bau der Messina-Brücke 1 bis nach Sizilien territorial verlängert und die Eisenbahn- und Fernstraßennetze so anpasst, dass alle wichtigen adriatischen, tyrrhenischen und ionischen Häfen angebunden sind, dann würde aus dem Süden Italiens ein pulsierendes Herz im Zentrum der Verkehrskorridore zum Maghreb, zum Balkan und zum Schwarzen Meer. Es entstünde ein bewusst geschaffener, intelligenter Knotenpunkt für die Güterströme vom Suezkanal [über Italien] nach Mittel- und Nordeuropa (Abbildung 3).

Die Brücke zwischen beiden Ufern könnte einen außerordentlichen symbolischen und materiellen Wert annehmen, als unmittelbare Verbindung und Verschmelzung der Kulturen und unterschiedlichen Vorzüge des Gebiets. Sie könnte ein entscheidender Beitrag sein, um eine neue Realität zu schaffen – nicht nur für die Insel an sich, sondern für eine neue, einzigartige „Metropolregion“. Sizilien wäre damit nicht bloß ein integraler Bestandteil der Halbinsel, sondern auch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit und zwischen anderen, sich entwickelnden Ländern und Regionen am Mittelmeer und ganz Europa. Auf diese Weise entstünden die Voraussetzungen für die Realisierung eines nicht hoch genug einzuschätzenden Prozesses, der an den ältesten Traditionen der Vergangenheit anknüpft, und der entscheidend wäre, um die Ortsdynamik und Ortsentwicklung wieder in Gang zu bringen.
Diese Region verdient eine neue und moderne Identität, in wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht. Diese neuen, fundamentalen Werte kämen zu der großen Tradition, die sie auszeichnet, hinzu. Die Region kann auch in der Idee der „Einheit“ ihre erneuerte Wirklichkeit finden. Wenn eine feste Verbindung zwischen der Italienischen Halbinsel und Sizilien verfügbar ist, kann eine Region mit mehr als fünf Millionen Einwohnern in das kontinentale Infrastrukturnetz eingebunden werden, von dessem Land sie geografisch betrachtet nur drei Kilometer entfernt ist (Abbildung 4).

Die Beseitigung dieser territorialen Zäsur würde der Entwicklung dieses Gebiets einen neuen Impuls verleihen, die Kosten der Bahnfährverbindung und die Transportkosten für den Handel mit Sizilien würden sinken, und auch die Umweltbelastung durch Fahrzeuge, die durch Messina und Villa San Giovanni fahren, würde reduziert.
Die Einbindung von Reggio Calabria in den Ballungsraum ist auch eine Gelegenheit, mit neuem Enthusiasmus die Idee einer Metropolregion an der Straße von Messina aufzugreifen. Diese Region kann in die staatliche Verwaltung und Planung eingebunden werden, um übergreifende Lösungen nicht bloß für die Verkehrsprobleme, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung zu finden.
Gleichzeitig katapultiert die „Verdoppelung“ des Suezkanals Italien an die vorderste Front der Herausforderung, im Süden die Infrastruktur zu erschließen, die für den Nord-Süd-Korridor der Eurasischen Landbrücke notwendig ist. Allgemein gesprochen braucht das mediterrane Europa ein ringförmiges Mobilitätssystem verschiedener, vernetzter Verkehrsträger (ausgehend von der räumlichen Nähe des Südens), das auf der Südseite die wichtigsten, sich kreuzenden intermodalen Korridore zur See stärkt (Abbildung 5).

Aus diesem Grund hat das [französische] Netzwerk der Ingenieurschulen im Mittelmeerraum (Réseau Méditerranéen des Ecoles d’Ingénieurs, RMEI)2 ein Forschungsprojekt namens MedTracking gestartet. Das Ziel dieses Projektes ist es, Zukunftsszenarien für ein intermodales Mobilitätssystem im Mittelmeerraum zu entwickeln, ausgehend von einer Kontinuität des Verkehrs zwischen Afrika und Europa auf der zentralen Achse, wobei die Italienische Halbinsel, Sizilien und das tunesische Kap Bon die natürliche Linie dieses euro-afrikanischen Korridors vorgeben.
Und hier kommt das TUNeIT-Projekt ins Spiel (Abbildung 6). Es ist eine Alternative zu dem Lösungsvorschlag der nationalen italienischen Energie- und Umweltagentur ENEA, welcher eine Eisenbahn-Tunnelverbindung zwischen Kap Bon in Tunesien und Pizzolato nördlich von Mazara del Vallo auf Sizilien mit einer Gesamtlänge von 150 km vorsieht.

TUNeIT seinerseits sieht vor, mehrere Brücken vom Ausmaß der Messina-Brücke zu bauen, um eine feste Verbindung über die Straße von Sizilien mit einer Gesamtlänge von 140 km zu schaffen. Wie im Fall des Projekts der ENEA müssen dazu künstliche Inseln aus dem Material des Erdaushubs aufgeworfen werden. Auf diesen Inseln würden alle notwendigen Einrichtungen für den Betrieb der Infrastruktur angesiedelt.
Die Inseln teilen die Strecke in fünf Abschnitte, die jeweils durch eine Brücke mit einer Reihe freitragender Spannweiten von 3000 m eine Länge von 21 bis 30 km umspannen. Die Auswirkungen dieser Inseln auf das Meeresleben werden durch die sorgfältige Gestaltung des Umfelds minimiert. Auf den Inseln können auch touristische Einrichtungen angesiedelt werden. Durch die so geschaffenen Verkehrsverbindungen lässt sich relativ leicht Intermodalität herstellen, und es ist denkbar, Pendelzüge für den Transport von Kraftfahrzeugen einzusetzen.
In diesem Fall erfolgte der Fracht- und Passagierverkehr über drei oder vier Gleise und der Straßenverkehr in beiden Richtungen auf jeweils zwei Fahrspuren, mit den entsprechenden Nothaltebuchten und Standspuren. In der Mitte lägen die Gleise für die Güter- und Personenzüge in beide Richtungen, außen die Fahrspuren für den Straßenverkehr, bei einer Gesamtbreite von maximal 60 m.
Die Tunesien-Sizilien-Verbindung wäre nicht nur eine Handels- und Eisenbahnverbindung, durch sie können auch verschiedene Welten und Kulturen miteinander in Kontakt kommen. Die Konsequenz dieses Projektes wären neue Szenarien für die Kommunikation und die Stärkung der Beziehungen zwischen den Ländern, neue Programme für Entwicklung und Zusammenarbeit (insbesondere in der Wirtschaft und im Handel) zwischen Regionen Europas und Afrikas sowie eine Anziehungskraft für zahlreiche ausländische Investoren zum Bau neuer Infrastrukturen und/oder andere Aktivitäten. Es ist ein Werk, das dank seiner Besonderheiten weltweit einzigartig wäre!
TUNeIT schüfe eine transkontinentale Landverbindung zwischen Europa und Afrika, so wie andere Bauwerke Kontinente verbinden: Europa mit Asien – etwa die Tunnel und Brücken am Bosporus –, Asien mit Afrika durch die Verdoppelung des Suezkanals und Europa mit Afrika durch die Straße von Gibraltar. Das Hauptziel dieses wichtigen Vorhabens ist der Zeitgewinn im Güteraustausch, der Verkürzung von 20 auf zwei Tage, und die erleichterte Kommunikation zwischen Nordeuropa und Nordafrika. CDI (der Nationale Rat der Ingenieure Italiens), RMEI (das Netzwerk der Ingenieurschulen im Mittelmeerraum), EAMC (Ingenieurverband der Mittelmeerländer), PAM (Parlamentarische Versammlung der Mittelmeerländer) und Terna SpA3 haben bereits Interesse an diesem faszinierenden Plan gezeigt.
Die Idee hinter TUNeIT ist weit mehr als ein Bauprojekt und eine Herausforderung für Ingenieure. Es ist ein Prozess der Komposition, Definition und Neuordnung historischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Elemente. Einerseits bedeutet das, dass eine Vielzahl von Fähigkeiten untereinander und mit allen anderen Akteuren in Wechselwirkung treten. Andererseits erfordert dies Aufmerksamkeit für die verschiedenen Beziehungen zwischen den bestehenden und den zukünftigen Systemen.
Es ist ein komplexes Unternehmen, das zusätzlich zu den technischen Aspekten auch eine poetische Sicht der Wirklichkeit erfordert, die mehr umfasst als die bloße Funktion der Bauten. So können in dem breiten Aufbauprozess, der das Thema der Verbindung zwischen Italien und Tunesien in allen möglichen Aspekten ausgestaltet, auch Begriffe wie Identität, Erhaltung, Entwicklung, Management ihren vollen Sinn entfalten.
TUNeIT bietet vielfältige Chancen; es ermöglicht die Analyse von allem, was mit dem Schutz und der Förderung des kulturellen Erbes und der nachhaltigen Entwicklung dieser Gebiete mit ihrer so reichen Geschichte zusammenhängt. Es ermöglicht weiter, darüber nachzudenken, wie neue architektonische Formen in die Landschaft des Mittelmeerraums eingebracht werden können, ohne dass diese ihre Bedeutung verliert, und es soll die Beziehungen und die möglichen Auswirkungen vertiefen, die diese neue Infrastruktur in dem konsolidierten Kontext der dabei berücksichtigten Werte hervorbringen kann.
Der Mittelmeerraum hat ein vielfältiges regionales Erbe, eine lange Geschichte und ein enormes Potential, das geschützt, entwickelt und verwaltet werden muss, um die Zusammenarbeit und das Vertrauen zwischen den Anliegerstaaten zu stärken und zu fördern. Die Stärkung der kulturellen Beziehungen zwischen diesen Gebieten muss ein ständiger Prozess sein, in dem die grundlegenden Stichworte Wissen, Verbreitung und Wertschätzung sind. Meiner Überzeugung nach umfasst das einen Geist dieses mediterranen Brückenschlags, der sich unter dem Motto „Die Kulturen verbinden und die Herzen teilen“ zusammenfassen lässt.
Man kann es als eine mediterrane kulturelle Haltung bezeichnen, die den Kreis schlägt zwischen dem Bosporus (= Europa und Asien), Suez (= Asien und Afrika), Gibraltar (= Afrika und Europa), der Messina-Brücke und TUNeIT (= Europa und Afrika). Es kann eine wahrhaft epochale und geopolitische Verbindung sein, sie kann die Polarität des Nordens gegenüber dem Süden in eine territoriale, physische, metaphysische und metaphorische Kontinuität verwandeln, womit wir den Sprung in die Zukunft vollziehen, ohne die Vergangenheit des Mare Nostrum zu vergessen.
Fußnote(n)
- Mit ihrer einzigartigen Mittelspannweite von 3300 m und Seitenspannweiten von 183 m wird die Messinabrücke die längste Hängebrücke der Welt sein. Die Türme an den beiden Küsten werden eine Höhe von über 380 m haben. Das Aufhängesystem besteht aus zwei Hauptkabelpaaren von jeweils 1,2 m Durchmesser. Mit dem Straßen- und Schienennetz wird die Brücke durch Zuführungsstrecken von insgesamt 40 km Länge verbunden sein, die als Anbindung an die Hauptstraßen auf dem Festland hauptsächlich als Galerien errichtet werden. Parallel mit den Planungen für die eigentliche Brücke kam die Idee auf, die Brücke mit mehr Leben zu erfüllen, indem man an der Außenseite der beiden Brückentürme zwei Wolkenkratzer baut, mit einer transparenten, nach oben hin offenen Fassade. Jeder dieser Türme könnte, den obersten Aufsatz nicht mitgerechnet, 380 m hoch sein und (ohne Kellergewölbe) 80 Stockwerke umfassen. In den Türmen könnten verschiedene Funktionen untergebracht werden: Konferenzräume, Einkaufszentren, Büros, Wohnungen und Hotelräume.[↩]
 - Das RMEI umfasst vier Fachrichtungen (Ingenieurwesen, Management, Architektur und Landwirtschaft), einen Studentenverband (Giovani Ambasciatori Mediterranei, GAMe), mehr als 100 Universitäten und Hochschulen sowie mehr als 100.000 Studenten.[↩]
 - Die Terna-Gruppe ist der zentrale Stromnetzbetreiber Italiens, der größte Europas und der sechstgrößte der Welt.[↩]
 
